Von Stasi in Westen getrieben Von Stasi in Westen getrieben: Endlose Odyssee durch Behörden und Institutionen

Halle (Saale) - Über die Zeit in dem Verhörraum möchte sie nicht sprechen. Sie möchte nicht einmal daran denken. Regine Hennig hat die Erinnerungen in eine Kiste in ihrem Kopf verbannt, die sie fest verschlossen hält. Nur manchmal kriecht ein Gedanke heraus, ein Gedanke an grapschende Hände, an Uniformen, an den Geruch von Papier, Linoleum und Ekel, der im Hauptquartier des MfS in Halle herrschte. „Ich will daran nicht erinnert werden“, sagt die kleine Frau dann mit fester Stimme, „es glaubt einem ja sowieso niemand.“
Regine Hennigs Leben: Von der Staatssicherheit zerstört?
So wenigstens kommt es der Hallenserin vor, die seit mehr als einem Vierteljahrhundert versucht, ein Leben zusammenzuflicken, das ihr, davon ist sie fest überzeugt, von der Staatssicherheit kaputtgemacht worden ist. Wo doch alles so gut lief! Obwohl die DDR ihr ihren Traumstudienplatz verwehrt, weil Vater Hennig als politisch unzuverlässig und überdies überlaut kritisch gilt, findet sich seine Tochter schnell mit der Alternative ab. Sprachmittlerin für Polnisch soll sie werden - und das passt. „Ich kannte die Sprache vorher gar nicht, aber die hat auf mich gewartet“, erzählt Regine Hennig. Schon nach einem Jahr spricht sie so fließend, dass Muttersprachler sie für eine der ihren halten.
Regine Hennig war immer im Visier der Stasi
Zwar geht auch der Traum vom Job in der weiten Welt nicht auf, doch mit der zugewiesenen Stelle an der halleschen Uni kann sich Regine Hennig arrangieren. „Ich habe unterrichtet und nebenbei an meiner Doktorarbeit geschrieben.“ Dass sie, ebenso wie ihr Bruder, immer im Visier der Stasi ist, ahnt die junge Frau. „Einmal hat mich ein Stasi-Mann direkt aus dem Büro abgeholt, in einem Wald gefahren und versucht, mich zur Mitarbeit zu überreden.“ Sie sagt nein. Und weiß danach, dass Schild und Schwert der Partei das nicht verzeihen werden. Später wird sie herausfinden, dass das MfS schon seit 1982 eine sogenannte Operative Personenkontrolle über sie verhängt hat, um ihre Kontakte nach Westdeutschland und Polen zu überwachen.
Kündigung wegen „gröblicher Verletzung staatsbürgerlicher Pflichten“
Im Sommer 1989, nach Jahren, in denen Regine Hennig zumindest oberflächlich in Frieden gelassen wird, kommt plötzlich, was sie so lange befürchtet hat. „Ich wurde einbestellt, mit absurden Vorwürfen konfrontiert und durch die Uni-Leitung von meiner Funktion als Leiterin der Polnisch-Ausbildung entbunden.“ Ein Schlag, der sie mitten in der Arbeit an ihrer Promotion trifft. Als die Kündigung wegen „gröblicher Verletzung staatsbürgerlicher Pflichten“ folgt, begründet mit „unangebrachter Belastung der Arbeitsatmosphäre“, erreicht sie Regina Hennig schon nicht mehr. Sie ist in den Westen geflohen, wo sie einen Neuanfang versuchen will.
Regine Hennig wird als „schwierig“, „traumatisiert“ und „bedauernswert“ beschrieben
Es ist das zweite Kapitel eines Dramas, das aus einer fröhlichen jungen Frau einen Menschen machen wird, den Leute, die ihm begegnet sind, viele Jahre später als „schwierig“, „traumatisiert“ und „bedauernswert“ beschreiben werden. Denn als Regine Hennig nach Mauerfall und Einheit in ihren alten Heimatort Peißen zurückkehrt, wo ihre Eltern und ihr Bruder in einem eigenen Haus leben, bleiben ihr alle Türen zurück in ihr altes Leben verschlossen. Der Rehabilitierungsausschuss der Uni lehnt ihren Antrag ab. Es gebe „keine Anhaltspunkte für politische Verfolgung“. Zur Empörung der Antragstellerin, die im Ausschussvorsitzenden den Mann erkennt, der einst ihre Kündigung unterschrieben hat. „Überall, wo ich versucht habe, meine Wiedereinstellung zu erreichen, saßen Leute, die da früher auch schon gesessen hatten.“
Als politisch Verfolgte an anerkannt - allerdings nur für zehn Wochen
Regine Hennig geht jetzt auf eine endlose Odyssee durch Behörden und Institutionen. Während die Frau aus dem Saalekreis erst Anzeigen verkauft, ehe sie sich zur Konfliktmediatorin, Rhetoriklehrerin und Trainerin für Atemtechniken ausbilden lässt, erkennt das Land Sachsen-Anhalt sie als politisch Verfolgte an. Allerdings nur für die zehn Wochen zwischen ihrer Abstrafung an der Uni und ihrer Flucht in den Westen. Doch immerhin, ein Lichtblick. „Als ich daraufhin aber noch einmal bei der Universität versucht habe, rehabilitiert zu werden, bekam ich nur die Antwort, ich solle von weiteren Schreiben absehen, da der Rehabilitierungsausschuss ohnehin gar nicht mehr existiere.“
Schwere Erkrankung von Regina Hennigs Vater kompliziert Situation weiter
Kapitel drei in einem Leben, das aus Sicht der Frau, die es führt, nicht das geworden ist, was es hätte werden sollen, weil die Stasi in einem kleinen, entscheidenden Moment eingriff, beginnt etwa hier. Mit einer schweren Erkrankung von Regina Hennigs Vater. Die Frau, die bis dahin als freischaffende Dolmetscherin und Personalcoach gut im Geschäft ist, legt ihr Gewerbe auf Eis, um zusammen mit ihrem Bruder den Mann zu pflegen, den die Stasi zeitlebens im Visier hatte. Drei Jahre lang geht das so, bis der Vater hochbetagt stirbt. „Ich bin heute noch dankbar, dass wir das gemacht haben“, sagt Regine Hennig, obwohl sie im Grunde vom ersten Tag nach Vaters Tod an vor dem Nichts steht. Gegen die Arbeitsagentur hat Regine Hennig keine Ansprüche, denn sie hat keine Beiträge bezahlt. Eine Weiterbildung stände ihr zu, auch wegen der erlittenen politischen Verfolgung. „Doch sie wurde abgelehnt, weil sie meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht erhöhen würde“, beschreibt Hennig. Sie ist jetzt 57 Jahre alt und sitzt mehrmals in der Woche ehrenamtlich in irgendeinem Krankenhaus in Halle, um Sterbenden die Hand zu halten, Schwerkranken beizustehen und Hinterbliebene zu trösten. Sie selbst aber findet Tröstung nur im Gedanken, „dass nichts meinen Körper und meinen Geist aus der Balance bringen kann, wenn ich es nicht zulasse“.
Hartz-IV gibt es nur, wenn Regina Hennig ihr Haus verkauft
Auch nicht der Umstand, dass ihr Hartz-IV zwar zustände. Allerdings erst, wenn sie und ihr Bruder, der in derselben finanziellen Situation steckt, das Haus der Familie verkaufen. „Aber das kommt für uns nicht infrage“, sagt Regine Hennig. „Es hängen einfach zu viele Erinnerungen daran.“
Kein Verkauf, keine Unterstützung, von nirgendwo. Diese Entscheidung steht am Beginn eines vierten Kapitels, das von Entfremdung, Angst und nackter Verzweiflung erzählt. Regine Hennig versucht nun alles, um Hilfsorganisationen für politisch Verfolgte, Pfarrer, Behörden, Institutionen, Bundestagsabgeordnete, Minister, ja, sogar die Bundeskanzlerin für ihren Fall zu interessieren. Sie schreibt, sie ruft an, sie macht unangemeldete Besuche. Sie nervt. Sie bekommt Absagen. Und sie nervt weiter. „Ich will doch nur ein bisschen Gerechtigkeit“, sagt sie, und sieht nicht ein, dass der Rechtsstaat nur Recht sprechen kann.
Versicherungspflicht: Krankenkasse erkennt die Kündigung nicht an
Und wie er das tut, versteht Regine Hennig schon gar nicht. So hat sie ihre Krankenversicherung ganz ordentlich gekündigt, „weil ich doch das Geld nicht mehr hatte, die Beiträge zu bezahlen“. Seit einiger Zeit gilt in Deutschland aber eine Versicherungspflicht. Verlassen kann nur der derjenige seine Krankenkasse, der nachweist, dass er in eine andere wechselt. Ein Wechsel, der für Regine Hennig nicht infrage kommt, denn, sagt sie, „dann könnte ich auch in dieser bleiben“. Also hat sie zurückgeschrieben, dass sie ja ausgetreten sei. Die Kasse antwortete, dass sie die Kündigung nicht anerkennen könne. Regine Hennig hörte trotzdem auf, die Beiträge zu bezahlen.
Bußgeldverfahren wegen nicht gezahlter Beiträge
Seitdem ist ihr Briefkasten voll von Mahnschreiben, Inkassobriefen, Gerichtspost. Die Kasse strengte eine Klage zur Beitreibung an. Und nach einer Anzeige beim Landesverwaltungsamt landete ein Bußgeldverfahren wegen nicht gezahlter Beiträge zur Pflegeversicherung in der Strafabteilung des Amtsgerichtes.
Mittlerweile geht alles ganz schnell. Regine Hennig traut niemandem mehr, nicht einmal denen, die ihr helfen wollen. „Ich stehe vor Gericht, weil ich mich selber nicht mehr bezahlen kann“, sagt sie bitter. Auswendig weiß sie die Grundgesetzformel von der Würde des Menschen, die unantastbar sei. „Ist sie das, wirklich?“, fragt sie. Warum treibe der Staat, den sie als seelenlose Maschine wahrnimmt, dann so einen Aufwand, ihr deutlich zu machen, dass sie eine Ausnahme sei?
Gutachten stellt ihre Verhandlungsfähigkeit in Frage
Regine Hennig fühlt sich zurückgestoßen, nicht ernst genommen, von denen betrogen, die sich um Menschen wie sie kümmern müssten. Sie kümmert sich doch auch! Etliche haben sich da ernsthaft Mühe gegeben, mussten aber die Erfahrung machen, dass es der Frau aus Peißen an Einsicht fehlt. „Sie will nicht verstehen, dass es Regeln gibt, die niemand außer Kraft setzen kann“, sagt einer, der sich bemüht hat, Regine Hennig zu helfen. Es geht nicht, ist sein Fazit. „Sie ist verbittert.“
Und zu einem Einlenken nicht bereit. Empört berichtet Regine Hennig, dass der Sozialpsychiatrische Dienst des Landkreises im Auftrag des Amtsgerichts jetzt ein Gutachten über sie erstellt habe. Das stelle ihre Verhandlungsfähigkeit in Frage. „Und die Ärztin hat mich nicht mal gesehen, geschweige denn mit mir gesprochen.“
Werden Anträge auf Rehabilitierung, Ausgleichszahlung und Förderung als SED-Opfer anerkannt?
Dennoch drohe das dreizeilige Schreiben ihr den Rest ihrer Menschenwürde zu nehmen. Regine Hennig ist nun auch ein Fall für das Betreuungsgericht, das ihr gegen ihren Willen eine Betreuerin zur Seite stellen will.
„Mich entmündigen“, nennt es Hennig, die nicht kampflos aufgeben wird. Einen Anwalt hat sie nicht. Sie sei ja im Recht, sagt sie. Wer braucht da einen Anwalt? Immer noch glaubt Regina Hennig, dass irgendeiner ihrer Anträge auf Rehabilitierung, Ausgleichszahlung und Förderung als SED-Opfer anerkannt wird. Dann wäre alles gut, sagt sie. Und wenn nicht? Sie bete viel, sagt sie, nicht nur für sich selbst. „Und ich weiß, dass sich am Ende des Lebens jeder für alles verantworten muss, was er getan hat.“ (mz)