Virtuelle Angstmacher Virtuelle Angstmacher: Junge Firma aus Magdeburg will die Psychotherapie modernisieren

Magdeburg - Ich schwebe. Zumindest fühlt es sich so an. Vor mir erstreckt sich ein Flur. Am Ende ist eine Tür, auf die ich zugleite. Mir ist dabei, als wäre ich ein Geist. Als wäre ich Ottfried Preußlers kleines Nachtgespenst, das gerade durch die Gänge der Burg Eulenstein wandelt. Eine verwirrende Situation. Ich atme schneller, mein Gehirn reagiert mit leichtem Schwindel. Doch der dauert nur wenige Sekunden. Ich habe die Tür erreicht. Über ihr ist eine Botschaft an die Wand geschrieben: „Ihr Vortrag beginnt bald“, steht da. Welcher Vortrag, frage ich mich. „Der erste Schritt, eine Angst zu überwinden, ist, sich ihr zu stellen“, sagt mir Psychologe Philipp Stepnicka. Meine Angst scheint der Vortrag zu sein. Ich soll vor Menschen sprechen. Und die warten hinter der Tür.
Künstliche Wirklichkeit VR: Alles ist Teil einer digitalen Welt
Allerdings gibt es diese erschreckenden Personen nicht wirklich. Denn was ich da gerade erlebe, ist nicht real. Ich bin nicht nachtgespenstergleich geschwebt. Die Tür gibt es ebenso wenig wie den Flur und die Schrift an der Wand. Alles ist Teil einer digitalen Welt. Denn gerade habe ich eine VR-Brille auf. Das Kürzel steht für „Virtual Reality“, künstliche Wirklichkeit also. Alles, was ich durch die Brille sehe, ist eine Computersimulation. Mir wird nur vorgegaukelt, dass es real sei.
Die VR-Technik erobert nach und nach neue Einsatzgebiete. Die Firma Neomento will sie nun für die Psychotherapie nutzen. Dabei spielt sie angstauslösende Szenarien auf eine VR-Brille. VR steht für „Virtual Reality“, also virtuelle Realität. Gemeint ist damit, dass dem Nutzer nur vorgegaukelt wird, dass er sich in einem realen Umfeld befindet. Das gelingt, indem die Brille ihm zwei unterschiedliche Bilder zeigt. Das ist in etwa so, als würden wir mit dem linken Auge in einen Fernseher schauen und mit dem rechten Auge in einen anderen Fernseher. Beide Bilder sind dabei so aufeinander abgestimmt, dass der Eindruck entsteht, wir würden uns in einer dreidimensionalen Welt bewegen. Hinzu kommt, dass bei der VR-Technik ein Rundumblick möglich ist. Die gesamten 360 Grad unseres Blickfeldes sind mit Bildinhalt gefüllt.
Den Effekt, den VR-Brillen beim Nutzer auslösen, nennt man Immersion. Damit ist das Eintauchen in die virtuelle Welt gemeint. Die Realität wird ausgeblendet. Wie stark dieser Effekt ist, hängt neben der Qualität des gezeigten Materials auch von den verwendeten Brillen ab. Dabei gab es gerade in den vergangen Jahren eine rasante Entwicklung. Brillen, wie sie etwa Neomento benutzt, haben eine hohe Leistung und liefern gestochen scharfe Bilder. Das erleichtert das Eintauchen in eine andere Welt.
Solche VR-Welten sind nicht ganz neu. Seit einigen Jahren schon erobert die Technik den Alltag der Menschen. Die wackeligen Pixel-Panoramen haben sich zu hochaufgelösten Rundum-Universen entwickelt. Sie werden mittlerweile in der Produktpräsentation, bei Videospielen oder sogar in der Erotikindustrie eingesetzt. Und wenn es nach der jungen Firma „neomento“ geht, sollen die VR-Brillen nun auch die Psychotherapie erobern.
Simulationen in der Psychotherapie werden schon länger eingesetzt
„Wir wollen die Behandlung von Angstpatienten besser und effizienter machen“, erklärt Jens Klaubert. Er gehört neben Philipp Stepnicka und dem Bioinformatiker Adam Streck zum Kernteam des Start-ups. Angefangen haben die drei Gründer in Magdeburg am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Ein Professor führte sie dort an den Einsatz der virtuellen Technik heran. Die Idee, Simulationen in der Psychotherapie einzusetzen, gibt es nämlich schon länger. „Bisher waren die Geräte aber noch nicht ausgereift genug und auch zu teuer“, sagt Jens Klaubert. Das habe sich geändert. Die Brille, die ich auf dem Kopf habe, kostet zum Beispiel etwa 900 Euro. Tendenz fallend.
Berlin statt Magdeburg: Hauptstadt ist das europäische Zentrum der VR-Szene
Die Vorführung der virtuellen Angstmacher findet jedoch nicht in Magdeburg statt, sondern auf dem Gelände der Charité in Berlin. Dort hat das DZNE, das zur Helmholtz-Gemeinschaft gehört, auch einen Standort. Der Umzug sei notwendig gewesen, denn die Hauptstadt ist das europäische Zentrum der VR-Szene. „Und hier ist es einfacher, gutes Personal zu finden“, sagt Klaubert. Auch keine Förderung hielt sie am alten Ort. Neomento finanziert sich bisher hauptsächlich aus Mitteln des Europäischen Rates und des Bundeswirtschaftsministeriums. In Sachsen-Anhalt gibt es zwar auch ein Programm, das Mitarbeiter finanzieren würde. „Das sind aber nur halbe Stellen, und das Gehalt ist so gering - damit lockt man keinen Entwickler nach Magdeburg.“
Allerdings hat auch Berlin seine Nachteile. Das merkt man im Büro. Die Neomento-Zentrale erinnert an die Käfighaltung bei Legehennen. Der Raum ist zehn Quadratmeter groß, beherbergt aber fünf Arbeitsplätze. Tendenz steigend. Wer hier seine Kollegen ärgern möchte, muss nur Gyros mit Zaziki in der Mittagspause essen. „Jeder will nach Berlin“, sagt Klaubert. „Da ist Raum Mangelware.“
Klaustrophobie-Behandlung: Bei Angstpatienten löst dieses Szenario Panik aus
Für die Klaustrophobie-Behandlung müssten die Gründer also keine eigene Simulation entwickeln - da reicht das Büro. Doch bei mir geht es ja um die Vortragsangst, also öffne ich die virtuelle Tür. Es folgt ein weiterer Flur, durch den ich schwebe. Dann eine Tür. Ich öffne, und da ist mein Publikum. Wie eine Schulklasse sitzt es vor mir und schaut mich gespannt an. Für mich ist zwar klar, dass es sich um eine Simulation handelt. Beobachtet fühle ich mich trotzdem.
An der Tafel steht das Thema meines Vortrags: „Beruf und Berufung - von Julius“. Ok, denke ich: Stegreif-Vortrag zu meinen Job. Dazu könnte ich natürlich etwas sagen. Vorträge waren noch nie mein Problem. In der Schule habe ich die immer freiwillig gemacht, weil es dafür vergleichsweise einfach gute Noten gab.
VR-Simulationen können realitätsnahe Stress-Reaktionen auslösen
Die Simulation wurde allerdings auch nicht für mich entwickelt, sondern für Angstpatienten. Und bei denen löst dieses Szenario Panik aus. „Wir bewegen uns im Bereich der sozialen Ängste und da stehen Vorträge vor Publikum in der sogenannten Angsthierarchie ganz weit oben“, erklärt Philipp Stepnicka. Schon die VR-Simulationen würde realitätsnahe Stress-Reaktionen auslösen können - das hätten Studien und Praxistests bereits gezeigt. „Ein Angstpatient gerät in Panik, wenn er sich seinem Angstobjekt gegenüber sieht. Das ist in etwa so, als würden wir uns einem weißen Hai gegenüber sehen“, sagt Stepnicka.
Und solche sozialen Angststörungen würden häufiger werden, sagt der Psychologe. Behandlungsplätze sind jedoch rar, die Praxen übervoll. Mit der virtuellen Therapie könnte man die Wartezeiten verkürzen. Denn sie ist eine effizientere Methode, um soziale Ängste zu behandeln. Bisher geht das zum einen über Gedankenspiele. „Im Gespräch soll sich der Patient in Gedanken in die Situation hineinbegeben, die ihm Angst macht.“ Wirkungsvoller als dieses Vorgehen - das zeigen Studien - sind aber Konfrontationen in der realen Welt. Beim Vortrag würde das bedeuten, dass der Patient tatsächlich ein Referat halten muss. Dazu bräuchte man aber ein Publikum, mit dem man vorher auch bestimmte Verhaltensweisen trainiert. Das zu organisieren und therapeutisch wirksam umzusetzen ist sehr aufwendig und zeitintensiv.
VR „soll Therapeuten nicht ersetzen, sondern seine Arbeit erleichtern“
Die VR-Brille bietet da Vorteile. Und noch dazu ist die virtuelle Welt interaktiv - das merke ich schnell. Als ich anfange zu sprechen, ruft plötzlich eine Frau dazwischen: „Lauter bitte“. Ich lege also mehr Druck in die Stimme. Doch daraufhin schauen alle nach unten, beschäftigen sich mit ihrem Handy oder dem Laptop. Das Desinteresse ist spürbar. Dann donnert ein Rettungswagen mit Martinshorn vorbei. Ein Telefon klingelt. „Das sind alles zusätzliche Reize, die den Patienten stressen sollen“, erklärt Stepnicka. Gesteuert werden sie vom Therapeuten. Die Behandlung liegt in seiner Hand.
Das sei auch wichtig, um die Akzeptanz der neuen Technik zu erhöhen. „Sie soll den Therapeuten nicht ersetzen, sondern seine Arbeit erleichtern“, sagt Jens Klaubert. Zu Testzwecken sind die Geräte auch schon in einigen Praxen im Einsatz. Und bald soll eine große Studie mit mehreren Kliniken starten, in der geprüft wird, ob die VR-Brille mit gängigen Behandlungsmethoden mithalten kann.
„Wir entwickeln neue Simulationen für soziale Ängste“
Derzeit arbeitet das neomento-Team an der Marktreife ihres Produktes - und an neuen Einsatzgebieten. Spezielle Phobien wie vor Spinnen oder Höhe stehen dabei nicht im Fokus. Dafür gebe es auch schon Anwendungen, weil die Reize recht einfach zu setzen seien. „Wir entwickeln neue Simulationen für soziale Ängste“, sagt Adam Steck. Ein Buch in der Bibliothek ausleihen, in ein öffentliches Verkehrsmittel einsteigen oder in einer Bar eine Frau ansprechen - solche Szenarien seien gerade in der Entstehung. Und das Bar-Beispiel soll auch im Bereich der Suchterkrankungen angewendet werden. „Anstatt die Frau anzusprechen, muss man dann ein Glas Wein ablehnen.“ Für Alkoholiker sei das eine hohe Hürde.
Ich habe alle Hindernisse beim Vortrag genommen - und am Ende applaudiert mein digitales Publikum sogar. „Der Patient soll eine Belohnung dafür bekommen, dass er sich der Angst gestellt hat“, sagt Philipp Stepnicka. Ich darf den virtuellen Raum verlassen und fühle mich zwar nicht geheilt - ich war ja nicht krank - aber durchaus ein bisschen besser. (mz)