Haseloffs Crew wirft den Anker Fünf Jahre Kenia-Koalition - MZ zieht eine Bilanz
Was für ein Trip: Vor fünf Jahren stach Kapitän Reiner Haseloff mit einer zusammengewürfelten Truppe in See. Häufig hart am Wind, manchmal kurz vorm Kentern - und einige Seeleute wurden kielgeholt. Die MZ zieht eine etwas andere Bilanz dieser abenteuerlustigen Regierungsmannschaft.
Es war der 23. April 2016, als dieses nie dagewesene Bündnis geschmiedet wurde. Vor exakt fünf Jahren stimmten Sachsen-Anhalts Grüne als letzte Partei für die erste sogenannte Kenia-Koalition bundesweit - zuvor hatten schon CDU und SPD dem neuen Dreierbündnis den Segen gegeben. Damals galt es als politisches Experiment, mittlerweile hat Sachsen das Modell übernommen. Ministerpräsident Reiner Haseloff?(CDU) versprach den ungleichen Partnern in Magdeburg: Am Lagerfeuer von Kenia ist es immer schön warm. Richtig ist: Zwischenzeitlich wurde es gar brenzlig zwischen den konservativen Christdemokraten und den eher linken Sozialdemokraten und Grünen in Sachsen-Anhalt.
Chronik: Luther und Schierke
Nach dem Schock des starken AfD-Einzugs in den Landtag widmete sich das Bündnis schnell der Arbeit - und dem ersten Zoff. Ein millionenschweres Tourismusprojekt im Harzort Schierke brachte die Regierung in Wallung: Weil eine geplante Seilbahn durch geschütztes Moor führen sollte, stellte sich das grüne Umweltministerium quer, während SPD und CDU unbedingt bauen wollten. Das ging so weit, dass Haseloff zur Kabinettswanderung in den Harz aufrief - prompt versank Umweltministerin Claudia Dalbert unterwegs im Moor. Mittlerweile ist das Projekt Schierke gescheitert.
Erbaulich wurde es 2017: Sachsen-Anhalt feierte Martin Luther und 500 Jahre Reformation, Wittenberg stand im internationalen Rampenlicht. Kulturell ebenfalls bedeutend in dieser Legislaturperiode: Dessau-Roßlau bekam 2019 ein neues Bauhaus-Museum. Und auch in Sachen Investitionen ging es voran. Wirtschaftsminister Armin Willingmann (SPD) meldete die größte Industrieansiedlung der vergangenen 15?Jahre im Land: Der E-Autobatterie-Hersteller Farasis entschied sich für eine 600-Millionen-Euro-Investition in Bitterfeld-Wolfen.
Koalition kurz vor dem Aus
Über die Jahre gab es allerdings erheblichen Personalschwund in der Regierung. Drei Minister und zwei Staatssekretäre mussten in fünf Jahren unfreiwillig die Posten räumen. Jörg Felgner (SPD, Wirtschaftsminister) und André Schröder (CDU, Finanzen) traten zurück, Holger Stahlknecht (CDU, Inneres) wurde von Haseloff entlassen. Bildungsstaatssekretärin Edwina Koch-Kupfer (CDU) verlor den Job, weil sie allzu selbstherrlich mit ihrem persönlichen Fahrer umging. Im Zuge des Skandals rund um den Ausbruchsversuch des Halle-Attentäters im halleschen Gefängnis musste Justizstaatssekretär Hubert Böning?(CDU) gehen. Das rechtsextreme Halle-Attentat mit zwei Toten - auch das eine prägende Wegmarke der fünf Regierungsjahre.
Zwar sind sich CDU, SPD und Grüne einig: Fast alle geplanten Regierungsprojekte konnten umgesetzt werden. Begleitet wurde die Arbeit aber von permanentem Streit. Kurz vorm Scheitern stand die Koalition 2019 wegen das Falls Robert Möritz, einem CDU-Lokalpolitiker mit Neonazi-Tattoo. Die CDU scheute den Parteiausschluss - SPD und Grüne reagierten entsetzt. „Wie viele Hakenkreuze haben Platz in der CDU?“, fragten die Grünen. Zum Zerreißen gespannt war die Stimmung erneut 2020 im Konflikt um den Rundfunkbeitrag. Anders als SPD und Grüne stemmte sich die CDU mit allen Mitteln gegen die Erhöhung um 86 Cent. Ergebnis: Sachsen-Anhalt stoppte im Alleingang den ausverhandelten Staatsvertrag für ganz Deutschland. Und wird deshalb nun vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk verklagt.
Jedes Regierungsmitglied verdient ein eigenes Arbeitszeugnis. Auf dieser Doppelseite zieht die MZ mit ihrem Karikaturisten eine etwas andere Fünf-Jahres-Bilanz.
Reiner Haseloff (CDU): Er ist zwar der alternativlose Kapitän an Deck, hatte aber manchmal Mühe, Schiff und Mannschaft auf Kurs zu halten. Sah sich auf den letzten Metern gezwungen, eine Meuterei an Bord zu ersticken. Schoss deshalb kurz vor Ultimo seinen wichtigsten Mann vom Schiff: Holger Stahlknecht. Dieser hatte allzu laut über eine großzügige Umbesetzung der Mannschaft nachgedacht, eine Minderheitsregierung ins Spiel gebracht - und wurde damit zum Ballast für Haseloff. Der Kapitän wählte kurzerhand die Kanonenkugel-Lösung - dem Frieden an Deck zuliebe. Er steht für neue Abenteuer bereit.
Holger Stahlknecht (CDU): Ging als hochdekorierter Offizier auf diesen Trip - und war am Ende selbst am meisten überrascht, als Haseloff ihn unsanft von Deck beförderte. So kann es gehen, wenn man dem Chef offen widerspricht. Scheiterte am Ende an seinem übergroßen Ego: Fachlich gesehen machte Stahlknecht solide Arbeit, stellte nach jahrelangen Sparorgien wieder deutlich mehr Polizisten im Land ein. Wird er jemals wieder einen Fuß an Deck setzen? Die halbe Crew soll dazu Wetten laufen haben.
Marco Tullner (CDU): Ohne Zweifel - Tullner hat den undankbarsten Job an Bord. Als Bildungsminister mühte er sich seit Beginn der Fahrt, ein Leck nach dem anderen zu stopfen. Muss dabei auch Fehler seiner Vorgänger ausbügeln, die an den falschen Stellen sparten (zum Beispiel am Lehrpersonal). Doch sobald ein Loch abgedichtet ist, tut sich schon das nächste auf. Was für ein Drecksjob, nie hört Tullner ein Lob. Eins muss man dem Hallenser aber lassen: Gejammert hat er nie, erstaunlich oft trifft man ihn mit guter Laune. Vielleicht ist er am Ende doch der härteste Knochen dieser Truppe. Was er im Gegensatz zu anderen Crew-Mitgliedern jedenfalls nicht ist: Kanonen- oder Haifischfutter.
Petra Grimm-Benne (SPD): Mutierte zum Ende der Reise gezwungenermaßen zur viel gefragten Schiffsärztin. Tut sich in dieser Rolle insofern schwer, als dass es nicht genug Impfstoff für alle gibt. Ist nicht ihre Schuld, aber erklär das mal den Patienten. Grimm-Benne kann sich in der Corona-Krise aber der Rückendeckung des Kapitäns sicher sein. Mit Haseloff hat sie ein wasserdichtes Bündnis geschmiedet: Selbst wenn es manchmal aussieht, als ob der Laden auseinanderfliegt - Haseloff vertraut seiner Stellvertreterin. Sie dürfte den Trip als Erfolg verbuchen.
Thomas Webel (CDU): War was? Die Auftritte von Thomas Webel am Oberdeck kann man an zwei Holzbeinen abzählen. Irgendwann auf dieser Reise entschied er sich für das Motto: Macht ihr das mal. Dabei agierte der Verkehrsminister einst auf dem Level eines Admirals: Bis 2018 hielt er die CDU als Landesparteichef zusammen, dann übernahm Rampensau Stahlknecht. Webel schläft nun lieber bei gutem Wetter im Ausguck und sieht mit der Gelassenheit des Alters dem Ruhestand entgegen. Zwar ist sein Dauerprojekt, die durchgehend befahrbare Autobahn?14 bis zur Ostsee, weiter unvollendet. Aber um es mit Webel zu sagen: In der Ruhe liegt die Kraft.
Rainer Robra (CDU): Der Leiter der Staatskanzlei gilt als alter Seebär, mit allen Wassern gewaschen. Nach fast 20?Jahren auf dem Posten muss Robra sich von keinem mehr Vorschriften machen lassen. Ist immer noch der einzige an Bord, der sich mit Navigation, Kompass und Sextant auskennt. Arbeitet konzentriert im Hintergrund, sein Kapitän vertraut ihm blind. So blind, dass Robra in den vergangenen fünf Jahren kurzerhand auch noch den Job des Kulturministers wegarbeitete. Wer soll das Schiff navigieren, wenn er doch irgendwann mal in Rente geht? Das fragt derzeit lieber keiner.
Michael Richter (CDU): Richter kam als Ersatzmatrose zur Mannschaft, mauserte sich aber zum fleißigsten Mitarbeiter. Zunächst übernahm er, als Finanzminister André Schröder kielgeholt wurde. War dann erneut gefragt, als Haseloff sich gegen Stahlknecht und für die Kanone entschied. Ein Matrose in Doppelrolle, das gibt es normalerweise nicht. Aber was ist hier schon normal? Richter, der Workaholic im Wellengang, muss aufpassen, dass er sich nicht übernimmt.
Claudia Dalbert (Grüne): Erlebte harte Jahre an Deck: Vor allem mit der CDU musste Dalbert vom ersten Tag an energieraubende Kämpfe austragen. Meist ging es um Grundsätzliches auf dem Kutter: Die Christdemokraten hätten am liebsten einfach ohne diese nervigen Grünen abgelegt. Ging aber nicht. So knallte es regelmäßig von Back- bis Steuerbord. Mehr als einmal drohte das schwarz-rot-grüne Bündnis zu zerbrechen. Immer wieder einstecken musste: Dalbert. Immerhin: Die Grünen-Basis zu Hause dankt es ihr, dass sie im Kabinett den Kopf hinhielt und Klima- und Naturschutzprojekte durchboxte. Würde sie es nochmal tun? Aber klar!
Armin Willingmann (SPD): Für den Wirtschaftsminister war es eine ertragreiche Fahrt. Zwar bedurfte es erst eines Rücktritts, um Willingmann zur Mannschaft zu holen. Doch in Amt und Würden machte der Mann mit dem Bart den einen oder anderen Handel. Unter Willingmann verzeichnete Sachsen-Anhalt millionenschwere Wirtschaftsansiedlungen, etwa ein Porsche-Karosseriewerk in Halle und eine E-Autobatterie-Fabrik in Bitterfeld-Wolfen. Sein aktuelles Problem kurz vorm Heimathafen: Willingmann sitzt auf einem Haufen Rum-Fässer ohne Verwendung. Denn wegen akuter Virusgefahr herrscht an Bord - wie überall - Bewirtungsstopp. Poseidon meint es auf den letzten Metern schlecht mit ihm. Dennoch war es ein guter Trip: Ob er sich die schwarz-rot-grüne Kenia-Flagge tätowiert?
Anne-Marie Keding (CDU): Irgendwas ist immer. An schlechten Tagen schafft es Keding, sich beim Segelsetzen selbst die Hände zu fesseln. Dieser Seemannsknoten sitzt! Ihre Performance an Deck wirkte auch sonst eher unglücklich: Mal wurde sie erwischt, wie sie im Fall Oury Jalloh dem Parlament wichtige Informationen verschwieg, peinlich war auch die Geschichte rund um den versuchten Gefängnisausbruch des Halle-Attentäters. Mehr als einmal sah es so aus, als müsste Keding über die Planke laufen - sie hielt dennoch bis zum Ende durch. Allerdings ist auch das durchaus eine Leistung, wie sich an den Abgängen zeigt.
André Schröder (CDU): War zum Reisestart der Mann mit der dicken Geldbörse. Wurde dann aber zum Mann mit dem Rückfahrticket. Finanzminister André Schröder verlor irgendwo auf dieser Tour das Vertrauen der CDU-Fraktion. Sie drängte ihn im Sommer 2019 zum Rücktritt, demontierte ihn geradezu. Dabei kam Schröder mit guten Referenzen an Bord: einst selbst Fraktionschef, dann Vizevorsitzender der Landespartei. Trotzdem wollten ihn immer mehr Abgeordnete kielholen: Ansehen verlor der Minister etwa in einer Flugaffäre um hochpreisige Tickets für sich und seine Büroleiterin. Er wählte schließlich den Sprung ins Rettungsboot.
Jörg Felgner (SPD): Ihn erwischte es zuerst: Jörg Felgner ging nach nur sieben Monaten als Wirtschaftsminister von Bord. Ihm wurde ein fragwürdiger Millionenvertrag zum Verhängnis, den er noch als Finanzstaatssekretär unterschrieben hatte. Als der Rechnungshof Felgner ins Visier nahm, wandten sich irgendwann auch Teile der Crew von ihm ab - er entschied sich schließlich für den Abgang von Bord. Auch das war eine Besonderheit dieser turbulenten, fünfjährigen Reise: Es war das erste Mal seit 2001, dass ein Landesminister aus politischen Gründen zurücktrat. (MZ/Jan Schumann)