„Freiheit ist ein hohes Gut“ Warum Saalekreis-Landrat keine schärferen Regeln verfügt hat
Der Landrat des Saalekreises, Hartmut Handschak, erklärt, warum er bisher keine schärferen Regeln verfügt hat und er den Inzidenzwert als alleinige Richtschnur ablehnt.
Merseburg
Ausgangssperren und Schulschließungen: Während Halle vergangene Woche diese Maßnahmen verhängte, verzichtete der Saalekreis bei ähnlich hoher Inzidenz auf zusätzliche Regeln. Warum, das erklärt Landrat Hartmut Handschak im Interview mit Robert Briest.
Vor zwei Monaten kam heraus, dass Sie sich am Silvestertag vorzeitig haben impfen lassen. Seitdem haben Sie sich öffentlich sehr rar gemacht. Warum?
Hartmut Handschak: Ich habe mich nicht rar gemacht. Aber ich muss auch nicht ständig Sprachrohr sein. Die Kollegen, die fachlich zu Themen arbeiten, können sich dazu selbst äußern. Ich habe mich auf meine Arbeit als Leiter der Verwaltung konzentriert. Das sehe ich als meine Hauptaufgabe.
Halles Stadtrat hat OB Wiegand am Mittwoch wegen der dortigen Impfaffäre beurlaubt. Welche Konsequenz haben Sie für sich nach Bekanntwerden Ihrer Impfung gezogen?
Hartmut Handschak: Zum Sachverhalt werde ich mich nicht weiter äußern, da ja ein Disziplinarverfahren gegen mich läuft. Ich habe dem Kreistag und den Aufsichtsbehörden alle Fragen beantwortet. Ich bedaure meine Entscheidung, auch wenn sie zum damaligen Zeitpunkt vielleicht nicht falsch war, weil sonst der Impfstoff verfallen wäre. Aber natürlich hat mich die moralische Frage, ob es richtig war, viel beschäftigt, und es belastet auch, wenn man sich ständig fragt: Was denkt der andere jetzt von dir? Ich möchte aber betonen: Es gab und gibt im Saalekreis keine organisierte Form der Bevorzugung.
Die Impfkampagne im Kreis ist vor gut 100 Tagen gestartet. Bisher haben nur knapp über zehn Prozent der Bürger die Erstimpfung erhalten. Wie beurteilen Sie den Fortschritt?
Hartmut Handschak: Als nicht befriedigend. Aber das liegt nicht an uns. In kürzester Zeit haben wir das Impfzentrum und alle Voraussetzungen zum Impfen geschaffen. Der Knackpunkt ist der Impfstoff. Zum Jahresende war von Mangel noch keine Rede, dann wurden die zugesagten Mengen aber immer weniger. Wir könnten am Tag 1.200 Menschen impfen. Hinzu kommen ja jetzt noch die Hausärzte und bald die Betriebsärzte.
Die haben bei der Total-Raffinerie bereits Hunderte Mitarbeiter wegen des baldigen Wartungsstillstandes geimpft. Die richtige Entscheidung?
Hartmut Handschak: Ja. Ich halte es für richtig, das Stammpersonal zu impfen. Es kommen 4.000 Arbeiter nach Leuna. Da geht es um das Risiko für die Menschen, die hier leben. Man muss aber auch sehen: Jeder Tag, den die Raffinerie später hochfährt, ist bares Geld.
Die Bundesregierung will offenbar das Infektionsschutzgesetz ändern, damit bei gleicher Inzidenz überall dieselben Regeln gelten. Was halten Sie davon?
Hartmut Handschak: Es ist nicht gut, wenn es ein Regelchaos gibt und der Bürger nicht mehr nachvollziehen kann, was wo gilt. Der Maßstab muss sein, dass der Bürger erkennen kann, warum etwas gemacht wird. Es ist beispielsweise weltfremd, zu sagen, eine Person darf einen anderen Haushalt treffen, aber die zweite Person aus demselben Haushalt darf das nicht mehr. Einheitlichkeit ist gut, aber ich kann nicht in Schleswig-Holstein bei einer Inzidenz von 18 eine Ausgangssperre verhängen, wenn es anderswo Regionen über 300 gibt. Und ich brauche auch in einem Flächenkreis wie unserem keine Ausgangssperre ab 22 Uhr verhängen. Was soll das etwa in Wettin bringen?
Regeln sollten also regional differenziert werden?
Hartmut Handschak: Ja. Die Regeln sind Grundrechtseinschränkungen. Deshalb müssen sie gut begründet sein. Freiheit ist ein sehr hohes Gut.
Die Ein-Haushalt-plus-eine-Person-Regel ist eine der wenigen, die die Landesverordnung ab einer Inzidenz von 100 vorschreibt. Die meisten Maßnahmen liegen im Ermessen der Kreise. Würden Sie sich mehr Vorgaben wünschen?
Hartmut Handschak: Das wäre für mich als Landrat einfacher. Ob es auch besser wäre, ist die Frage. Ich bin als Landrat bereit, Verantwortung zu übernehmen. Wir wollen aber das machen, was tatsächlich hilft, die Pandemie einzudämmen. Inzidenzwerte können dabei nicht die alleinige Grundlage sein, sie sagen nichts über die Zahl schwerer Verläufe aus. Man muss auch betrachten, wie die Krankenhauskapazitäten aussehen. Da braucht es ein Ampelsystem: Grün, Gelb, Rot. Bei Rot gibt es schärfere Maßnahmen.
Ist Ihre Skepsis gegenüber dem Inzidenzwert der Grund, warum Halle bei einer Inzidenz um 230 vergangenen Freitag Ausgangssperren verhängt und Schulschließungen beantragt, der Saalekreis aber bei ähnlichem Wert die Füße stillgehalten hat?
Hartmut Handschak: Wir haben nicht die Füße stillgehalten, sondern die Landesverordnung angewendet, die sagt, dass weitere Maßnahmen fällig sind, wenn die Inzidenz fünf Tage hintereinander über 200 liegt. Unsere lag nur zwei Tage darüber. Deswegen gibt es derzeit keinen Anlass, die Grundrechte zusätzlich einzuschränken. Die Schulen regelt das Land.
Dort und in Kitas gibt es derzeit vielfach Hotspots. Ist es sinnvoll, sie offen zu halten?
Hartmut Handschak: Die Entwicklung ist derzeit nicht schön. Wer wie ich eine Lehrerin als Frau hat, weiß aber um die Wichtigkeit des Präsenzunterrichts. Mit der Aussetzung der Präsenzpflicht, also das Eltern selbst entscheiden können, ob sie ihr Kind schicken, haben wir eine gute Regel. Hinzu kommen die Tests der Schüler, die jetzt anlaufen. Sie sind ein Mittel, um das Risiko zu minimieren. Ich bin auch froh, dass wir viele Lehrer und Erzieher schon impfen konnten. Sollten die Zahlen dauerhaft über 200 sein, wird das Land den Präsenzunterricht wohl überdenken.
Was würde die übrigen Bürger erwarten, sollte der Saalekreis demnächst mehr als fünf Tage am Stück über 200 liegen?
Hartmut Handschak: Das entscheidet der Pandemiestab, sollten wir in die Situation kommen. Fest steht: Die Maßnahmen müssen zielführend sein. Der Einzelhandel sowie die Gastronomie sind für mich bei Einhaltung der Maßnahmen kein großer Übertragungsweg. Der entscheidende Punkt, um die Pandemie einzudämmen, ist: impfen, impfen, impfen. (mz)