Reportage Reportage: Im Schachdorf Ströbeck lebt der Sport der Könige

Ströbeck/dpa. - «Schach finden Sie bei uns praktisch überall: Jeder Einwohnerkann es spielen», erzählt Bürgermeister Rudi Krosch - wenige Schrittevom «Schachplatz» entfernt. Sein ausgestreckter Arm zeigt nach oben,hinauf zum Schachturm, Denn hier hat einst die Brettspiel-Geschichtedes 1200 Einwohner zählenden Dorfes begonnen. Es war im Jahre 1011,als der Halberstädter Bischof in dem alten Gemäuer einen Gefangeneneingesperrt hatte. Ströbecker Bauern sollten ihn bewachen, doch schonbald wurde ihnen langweilig. Der Gefangene wusste Abhilfe undbrachte den Bauern das Schachspiel bei.
«Bis heute ist die Schachtradition erhalten geblieben. Sie wurdesogar noch erweitert», sagt Rudi Krosch stolz. Seit 1688 gibt es eineLebendschach-Gruppe, seit 180 Jahren wird an der Ströbecker SchuleSchach als Pflichtfach gelehrt, außerdem gibt es in dem kleinen OrtDeutschlands einziges Schachmuseum. Zu DDR-Zeiten hatte dieLandwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft - kurz LPG - hier nichtetwa einen sozialistischen Namen oder Bezeichnungen wie «Einheit»oder «Fortschritt» wie andernorts üblich. Die Ströbecker setztenvielmehr den Namen «Schachspiel» durch. «Die Begründung war damalsetwas schwierig», gibt Krosch heute mit verschmitztem Gesicht zu.
Die Schach-Narretei setzte sich auch nach der Wende fort. Bei denKommunalwahlen setzten die Ströbecker ihr Kreuzchen nicht bei CDUoder SPD, sondern sie votierten für den «Verein zur Wahrung undPflege der Schachtradition». So wurde Krosch 1990 Bürgermeister.
Krosch ist in Eile. Er will noch kurz bei Josef Cacek imSchachmuseum vorbei schauen. Cacek ist die »Seele des Schachs» inStröbeck, hört man von vielen Seiten. 40 Jahre lang war erSchachlehrer an der Schule und hat die Lehrpläne für das Fachaufgestellt, die auch heute noch in abgewandelter Form benutztwerden. Seit der 71-Jährige in Rente ist, kümmert er sich um dasSchachmuseum. Hier ist dokumentiert, dass Ströbeck schon langeweltweit bekannt ist. Frühe Fernsehaufnahmen gibt es im Museumgenauso zu sehen wie zahlreiche Schachspiele - von den Eskimos, Inkasund Spiele, die Soldaten im Krieg geschnitzt haben.
Nur ein paar Minuten Fußmarsch vom Schachturm entfernt, vorbei anverlassenen Gehöften und frisch getünchten Einfamilienhäusern, liegtdie Schule, an der für Schach-Nachwuchs gesorgt wird. Die Schülererlernen das Spiel von der zweiten bis zur siebten Klasse - jeweilseine Stunde pro Woche.
In der «Emanuel-Lasker-Sekundarschule» begegnet dem Besucher aufSchritt und Tritt das Spiel der Könige. Nicht eine einfache Tafelweist auf die Schule hin, sondern ein Schild, umrahmt von schwarz-metallenen Schachfiguren. Gleich dahinter auf dem Schulhof ist einschwarz-weißes Brett gepflastert. Hier stehen die 32 Figuren etwasdurcheinander. «Schuld» hat der Hausmeister: Solange die Schüler imUnterricht sind, fegt er noch eifrig den Hof.
Kurz nach dem Klingeln stürmen die Schüler lärmend durch dieFlure, in denen es leicht muffig und nach Putzmitteln riecht. Sielaufen vorbei an unbeachteten Schwarz-Weiß-Fotos und anderen Bildern,auf denen sich alles ums Schachspiel dreht. Vorbei geht es anaufgehängten Schachbrettern, selbst gestalteten Wandtafeln, die dieBedeutung der Schachfiguren erklären und die die 13 Schachweltmeisteraufzählen, darunter auch den Mann, der der Schule ihren Namen gegebenhat: Schachweltmeister Emanuel Lasker (1868-1941).
In der ersten Etage herrscht in Klasse 6 b noch Pausenstimmung,als Lehrerin Renate Rohmann drei Mal in die Hände klatscht: «Jetztist aber Ruhe, wir wollen anfangen.» In der letzten Reihe wird nochgetuschelt. «Welcher Begriff ist in der letzten Stunde neu gefallen?»Die resolute Lehrerin blickt in die Runde. Eifrig recken dieSechstklässler ihre Arme in die Höhe. «Erik?» - «Röntgenangriff»,sagt der blonde Junge. «Richtig, das ist so ein Klassiker, dass eruns heute noch beschäftigt», erwidert die Pädagogin und wendet sichdieser speziellen Schachstrategie zu.
Auch die Historie des Spiels gehört zum Lehrplan. So erfahren dieSchüler, dass die Schachgeschichte insgesamt deutlich weiter zurückgeht als in Ströbeck. Das Spiel entstand vermutlich vor etwa 1500Jahren in Indien und gelangte über Nordafrika und Spanien im 11.Jahrhundert nach Mitteleuropa. Der Name geht auf das persische WortSchah (König) zurück. Deshalb wird es auch als «Spiel der Könige»bezeichnet.
Nach ein paar Minuten Theorie brennen die Sechstklässler auf diePraxis. Der Schrank mit den Schachbrettern wird gestürmt. Schnellstehen auf jedem Tisch ein Brett und Figuren. «Es wird wie immernicht gesprochen beim Spiel, nur Schach und Matt sind erlaubt»,versucht Renate Rohmann zu bremsen. «Der Sieger kommt nach vorn undsagt es an.» Ohne Extra-Aufforderung reichen sich die Schüler miteinem Lächeln die Hände zum freundlichen Handschlag. Dann wird esstill. Die Blicke sind ernst und konzentriert. Viele Hände stützendie Köpfe. Außer den Augen und den Schuhen unter dem Tisch bewegtsich kaum etwas. Nach anderthalb Minuten steht bereits die ersteSchülerin vor der erstaunten Lehrerin: «Ich habe gewonnen.» - «Dasdarf doch nicht wahr sein», entgegnet die 55-Jährige. Dann sagt sieschnell: «Farben wechseln und noch mal.»
Wie ihre Schüler hat auch Renate Rohmann schon an dieser Schuledas Schachspielen erlernt. «Seit 1970 bin ich selbst Lehrerin hier,seit 1990 unterrichte ich Schach.» Den Unterricht in dem besonderenFach teilt sie sich mit Frank-Werner Hädrich, der die Schule seitAugust leitet. Für beide ist Schach nach wie vor ein Spiel. Daswollen sie auch ihren Schülern so vermitteln. Mit jüngeren Schülernwird deshalb schon Mal Märchenschach gespielt. «Dann kommtbeispielsweise die böse Hexe und fegt alle Figuren von der H-Reiheweg», erzählt Hädrich. «Fünfen und Sechsen gibt es bei uns nicht,wegen des Unterrichtsfachs Schach bleibt also niemand sitzen», sagtdie Lehrerin mit einem Lächeln. Eine Eins gibt es, wenn ein Schülerseinen Lehrer besiegt.
«Das regelmäßige Schachspielen fördert das logischeDenkvermögen», ergänzt Hädrich. «Schachspieler gehen an die Lösungvon Problemen logischer heran.» Insgesamt hätten die Schüler einebessere Arbeitsweise, sie seien konzentrierter, könnten schon in denunteren Klassen lange still sitzen. «Eine Partie kann schließlichlange dauern.» Auf die immer wieder gestellte Frage, ob bei so vielSpielern und so viel Schachunterricht nicht auch einmal einGroßmeister herauskommt, antwortet Rohmann: «Schließlich wird anjeder Schule Chemie unterrichtet, aber wer kann schon einenNobelpreisträger vorweisen?»
Nur wenige Tage später wird das sonst so ruhige Dorf richtiglebendig: Es werden 180 Jahre Schulschach und 120 Jahre Schachvereingefeiert. Schuldirektor Hädrich ist in einer völlig anderen Rolle,denn neben dem Schulschach kümmert sich der 42-Jährige um eineweitere Ströbecker Schach-Tradition: Deutschlands ältesteLebendschach-Gruppe. Schon seit 1688 werden Dame, Turm, Bauer vonkostümierten Menschen dargestellt.
Stolz und ein bisschen aufgeregt hat Hädrich am Rand des etwaacht mal acht Meter großen schwarz-weißen Schachbretts Positionbezogen. Dort stehen seine 32 Figuren in ungewöhnlicher Größe,zappeln ein wenig, werfen immer wieder einen Blick auf ihren «Chef».Hädrich ruft den blau und rot bekleideten Kindern laut zu: «Bitte indie Ausgangsposition!» Die kleinen Bauern trampeln langsam in ihreReihen, die etwa einen Kopf größeren Damen und Könige schreitenwürdevoll an ihren Platz. Hädrich ruft «Schach!» - die 32 Figurenentgegnen: «Matt!». Das Spiel beginnt.
Heute werden die Figuren vom sachsen-anhaltischen Finanzministerund einem Vertreter der Verwaltungsgemeinschaft von «C7 auf C5»geschickt oder zu einer «Rochade» aufgefordert. Hädrich steht währenddes Spiels mit wachsamem Blick neben seiner Truppe. Den meisten hater selbst das Schachspiel beigebracht.
«Bei uns beginnen Schüler ab der ersten oder zweiten Klasse alsBauer und können sich dann über Jahre zum König oder zur Damehochdienen», sagt Hädrich später. Im Gegensatz zu den Schachregelnkönne sich hier also jeder Bauer in eine Dame verwandeln. Ein Lächelngleitet über sein Gesicht. Die 16-jährige Michèlle hat es geschafft.Seit einem Jahr darf sie als blaue Dame und damit eine derwertvollsten Figuren auf dem Spielfeld stehen. Zuvor hat dasschüchterne Mädchen in fast allen anderen Kostümen gesteckt. «Vorsieben Jahren habe ich als Bauer angefangen, dann war ich Turm,Springer, König und jetzt Dame», sagt die 16-Jährige mit gesenktemBlick. Auf den 64 Feldern verwandelt sie sich mit ihrer Krone und demblauen Gewand in eine erhabene Figur.
Von Michèlles Freunden sind nur wenige in der Lebendschach-Gruppeaktiv. «Den meisten fehlt das Durchhaltevermögen, über viele Jahremitzumachen.» Das ist aber die Bedingung, wenn man es zur Damebringen will. Ihre Freundin Christine, die den roten König spielt,kommt hinzu und ergänzt: «Der richtige Anreiz ist doch, dass man mitder Gruppe mal richtig weit weg kommt.» Tatsächlich ist das Ensembleregelmäßig im Ausland unterwegs. Michèlle und Christine können schonvon einigen Reisen erzählen: England, Tschechien, Holland, Italien.«Und dafür müssen wir nicht einmal was bezahlen, das Geld verdienenwir mit den Auftritten», schwärmt Christine, die von sich selbstsagt: «Ich hab's nicht so mit Schach.»
Die lange Tradition des Ströbecker Lebendschachs ist durch diedrohende Schließung der Schachschule gefährdet. Es gibt nicht mehrgenug Schüler in Sachsen-Anhalt. Für das gerade begonnene Schuljahrkam mit 24 Schülern gerade noch die nötige Zahl Fünftklässlerzusammen, ob es im kommenden Jahr auch klappt, ist noch offen. «Wennunsere Schule geschlossen wird, bricht auch die Lebendschach-Gruppezusammen», befürchtet Hädrich. Später würde auch der SchachvereinProbleme bekommen. In Ströbeck bliebe nicht mehr viel von der Schach-Tradition übrig.
Bürgermeister Krosch will indes alles versuchen, um die Schule zuerhalten. Er will sogar versuchen, Ströbeck in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO aufnehmen zu lassen. «Dann können sie die Schulenicht mehr schließen», hofft der 60-Jährige. «Und die StröbeckerSchachtradition bleibt lebendig.»