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Rechtsanwalt im Zweiten Weltkrieg Rechtsanwalt im Zweiten Weltkrieg: Hans Calmeyer entschied über Leben und Tod

Von Steffen Könau 09.04.2016, 12:42
Hans Calmeyer 1931 am Flughafen in Leipzig/Halle.
Hans Calmeyer 1931 am Flughafen in Leipzig/Halle. Niedersächsisches Landesarchiv Osnabrück

Naumburg - Der Mann mit den schmalen Lippen und der Vorliebe für große Fliegen am Hals hasste Uniformen. Erleichtert atmet Hans Calmeyer auf, als es ihm im März 1941 gelingt, dem Kommiss bei der Wehrmacht zu entkommen. „Die Würde, mit der ich morgens wandle, ist nicht ohne Komik“, schreibt er in einem erleichterten Brief an seine Eltern, „ungewohnt komme ich mir mit dem Hute eines Zivilisten vor.“ Den zu schwenken, statt militärisch zu grüßen, falle ihm „ebenso sauer wie der zum Heil Hitlers erhobene Arm“.

Ein Nazi ist er wohl offenbar nicht, dieser Hans Calmeyer, geboren als jüngster von drei Brüdern in Osnabrück, später in Naumburg zur Schule gegangen und als junger Staatsanwalt in Halle tätig. Calmeyer denkt deutschnational, er ist Mitglied einer schlagenden Verbindung und tritt sogar einem Freicorps der berüchtigten Schwarzen Reichswehr bei, dem auch Hitlers späterer Stellvertreter Rudolf Heß und der spätere SA-Chef Ernst Röhm angehören.

Calmeyer kämpft um seinen Job

Im Gegensatz zu denen aber ist Hans Calmeyer ein Suchender, ein Mann, der immer offen bleibt für Änderungen, für neue Gedanken und Ideale. Während die Macht der politischen Rechten wächst, bewegt sich Calmeyer - nach dem Tod der Brüder im I. Weltkrieg das letzte Kind seines Vaters -, der als Vizepräsident am Oberlandesgericht in Naumburg dient, langsam weg von den extremen Positionen seiner Jugend. Mit 20 ist er noch Zeuge von Hitlers Marsch auf die Feldherrenhalle, einem Putschversuch, der schiefgeht. Mit nicht einmal 30 und jung verheiratet, tauscht er den sicheren Posten als Staatsanwalt in Halle gegen die freie Existenz als Anwalt in Osnabrück. Und Hans Calmeyer scheut sich nicht, auch als Verteidiger von Kommunisten aufzutreten.

Ein Wagnis, spätestens als Hitler 1933 die Macht ergreift. Calmeyer bekommt nun selbst Probleme, auch, weil er in seiner Kanzlei eine Jüdin beschäftigt. Er muss sich einem langwierigen standesrechtlichen Verfahren stellen, verliert seine Zulassung als Anwalt und braucht Monate und drei Instanzen, ehe ihm das Regime wieder gestattet, seinen Beruf auszuüben.

Besonderer Job in den Niederlanden

Nur nach außen lernt Calmeyer, inzwischen mit seiner großen Liebe Ruth verheiratet und Vater eines Sohnes. Unauffälliger lebt er jetzt, ein Querkopf, aber beileibe kein Widerständler, wie der Sachbuchautor Mathias Middelberg in seinem Calmeyer-Buch „Wer bin ich, dass ich über Leben und Tod entscheide“ (Wallstein, 19,90 Euro) schreibt. Hans Calmeyer wird zur Luftwaffe einberufen - er leidet. Und als ihm dann ein alter Bekannter aus Osnabrück, der mittlerweile im Reichskommissariat für die besetzten niederländischen Gebiete dient, einen Job anbietet, sagt Calmeyer nicht nein. Der Plan sei „phantastisch schön“, schreibt er seiner Ruth, „halte die Daumen, dass etwas daraus wird“.

Was, kann Hans Calmeyer zu dieser Zeit noch nicht wissen. Dann auf einmal ist er, der Jurist, der immer noch an den Rechtsstaat glaubt, Rassereferent in den Niederlanden, ein Schlüsselposten bei der von Hitler propagierten „Endlösung“ der Judenfrage. Die soll planmäßig und geordnet vonstatten gehen, das Reichsinnenministerium hat klare bürokratische Regelungen erlassen, wonach Juden und Halbjuden, Deutschblütige und Mischlinge ersten, zweiten und dritten Grades voneinander zu unterscheiden sein sollen.

Die Mordmaschine ist ein bürokratisches Monster, das ab 1941 beginnt, auch in den Niederlanden Menschen zu verschlingen. Hans Calmeyer, der weiß „das zertretene Recht führt zum Mord“, protestiert nicht, er schreibt keine Briefe und er versucht auch nicht, seinen Posten gegen einen anderen einzutauschen. Stattdessen beginnt der 38-Jährige, die vielfältigen und zumindest nach außen immer noch einen Hauch von Rechtsstaatlichkeit behauptenden Regeln der Vernichtungsindustrie wörtlich zu nehmen - und weit auszulegen. „Calmeyern“ wird unter den Juden der Niederlande zu einem geflügelten Wort: Es bedeutet die Möglichkeit, mit Hilfe von Eidesstattlichen Versicherungen, Gerichtsurteilen oder Gefälligkeitszeugen vom Rand des Abgrundes zu springen, der nach Auschwitz führt.

Lebensretter oder Mörder?

In 3.700 Fällen, so haben niederländische Experten nach dem Krieg gezählt, stuft Calmeyer sogenannte rassische Zweifelsfälle als Arier ein. Er rettet damit auch Jacqueline van Maarsen, die beste Freundin von Anne Frank, dem jüdischen Mädchen, dessen Tagebuch heute weltbekannt ist. Insgesamt bewahrte der frühere Naumburger Oberschüler damit dreimal mehr Menschen vor dem Tod im KZ als der seit dem Hollywood-Film „Schindlers Liste“ weltberühmte Oskar Schindler.

Mathias Middelberg ist CDU-Mitglied und seit 2009 Bundestagsabgeordneter. In seiner Dissertation beschäftigte sich der heute 51-Jährige zum ersten Mal mit dem Wirken des Osnabrücker Rechtsanwalts Hans Georg Calmeyer als Rassereferent der deutschen Besatzungsverwaltung in den Niederlanden. Calmeyer galt als umstritten, weil er zweifellos am Tode von Menschen mitgewirkt hat, die nach seinem Beschluss zur Rassezugehörigkeit ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht und ermordet wurden. Auf der anderen Seite steht Calmeyers Verdienst, Tausende gerettet zu haben.

Ob Hans Calmeyer eine bewusste Entscheidung dazu getroffen hat, sich insgeheim gegen die Vernichtungspolitik der Nazis zu stellen, ist bis heute umstritten. Israels Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hat Calmeyer bereits 1992 zu einem der „Gerechten unter den Völkern“ erklärt, in den Niederlanden aber gibt es immer wieder Kritik an dem kleinen Rädchen im Getriebe der Mordmaschinerie. Calmeyer habe schließlich immer noch Tausende in den Tod geschickt, heißt es kritisch über ihn.

Risiko war Calmeyer bewusst

Mathias Middelberg, selbst Osnabrücker, studierter Jurist und hauptberuflich seit 2009 Bundestagsabgeordneter, zeichnet in seiner umfassenden Erforschung des Lebensweges des Judenretters von Den Haag das Bild eines Mannes, der aus Anstand versuchte, dem bizarren Apparat der Anthropologen, Rasseforscher und SS-Verfolger in die Speichen zu greifen. Calmeyer betrieb ein gefährliches Spiel, weil die Zahlen der von ihm Arisierten ihn verrieten. Dennoch hielt er an seinem Weg fest, auch falsche Anträge wohlwollend zu prüfen und wenn irgend möglich im Sinne der Antragsteller zu entscheiden. Das Risiko, ins Visier des konkurrierenden „Judenreferats“ der SS zu geraten, ging er dabei ein.

Das Ende des Krieges erlebt Hans Calmeyer im Bewusstsein, „das Richtige getan zu haben“, wie er seiner Mutter im April 1945 schreibt. Er habe sich als Arzt gesehen, der mit 50 Ampullen Medizin 5.000 Todkranke retten solle. „Welche 50“, habe er sich stets gefragt, so Calmeyer. Hätte er mehr tun müssen? Sicher. Oder nichts tun können? Freilich. Ist er sauber geblieben? Nein. Aber sauberer. (mz)

Der Personalbogen Calmeyers aus seiner Personalakte mit den Stationen „Tag der ersten Vereidigung in Halle“ und „1930-1931 Staatsanwaltschaft Halle“
Der Personalbogen Calmeyers aus seiner Personalakte mit den Stationen „Tag der ersten Vereidigung in Halle“ und „1930-1931 Staatsanwaltschaft Halle“
Niedersächsisches Landesarchiv Osnabrück