Rechenschwäche Rechenschwäche: Im Teufelskreis der Mathematik
Halle/MZ. - "Wir haben genügend Zeit. Du schaffst das schon." Einfühlsam ermutigt Martina Kleymann ihren Schützling. Martin (Name geändert) überlegt, greift nach bunten Steckwürfeln und fügt sie zusammen. Vorsichtshalber schiebt er auch noch die Kugeln der Rechenmaschine hin und her. "49?", sagt er schließlich mit fragendem Unterton. "Prima", lobt die Therapeutin, und dem Neunjährigen ist die Erleichterung anzusehen. Martin, der im halleschen Zentrum zur Therapie von Rechenschwäche (ZTR) betreut wird, leidet an Rechenschwäche, wissenschaftlich Dyskalkulie genannt.
Charakteristisch dafür ist mangelndes Verständnis für Zahlen, Mengen und Maßeinheiten. Einen bestimmten Typ dieser Lernstörung gibt es jedoch nicht. Rechenstörungen sind so vielfältig, wie es rechenschwache Kinder gibt. Martin ist kein Einzelfall. Das belegt auch eine Studie des Fachbereichs Pädagogische Psychologie der Universität Jena. Untersucht wurde die Häufigkeit von Rechenschwäche bei Viertklässlern in Grundschulen der Stadt Zeitz und des Burgenlandkreises. Betroffen waren immerhin elf von 40 Schülern. Helfen kann ihnen nach einem speziellen Test nur eine auf jedes Kind zugeschnittene Mathematiktherapie.
Als Martins Schwächen bemerkt wurden und sich trotz Förderunterrichts in der Schule keine Besserung einstellte, suchten seine Eltern Hilfe bei ausgebildeten Fachleuten. In Sachsen-Anhalt wird sie von verschiedenen Einrichtungen angeboten (siehe Infokasten). Um Martin kümmert sich seit einigen Monaten Martina Kleymann. Welche Qualen rechenschwache Kinder durchleiden und was deren Eltern durchmachen, weiß die junge Frau aus eigener Erfahrung.
Es ist erst einige Jahre her, da begleitete die junge Frau ihre eigene Tochter zum Institut in der Reichardtstraße. "Obwohl mein Mann und ich Zahlenmenschen sind", erzählt die diplomierte Betriebswirtin, "kam unsere Tochter nur noch mit schlechten Mathe-Zensuren nach Hause". Als bei ihr eine Rechenschwäche diagnostiziert wurde, folgten Monate voller Mühe und auch Kosten. Denn nur wenige Kommunen übernehmen die Beiträge für eine Therapie, obwohl die Möglichkeit nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz besteht. "Doch der Erfolg hat den Aufwand gelohnt", sagt Martina Kleymann. "Unsere Tochter besucht heute ein Gymnasium. Mich hat die therapeutische Arbeit so begeistert, dass ich nach einer Fachausbildung nun selbst Kindern im Institut betreue".
Rechenschwäche hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun und ist auch keine unheilbare Krankheit. Sie kann viele Ursachen haben. Neben mangelhafter Stoffvermittlung oder zu hohem Lerntempo bewirkt häufig eine krankheitsbedingte Abwesenheit vom Unterricht, dass Schüler anschließend im Stoff nicht mehr mitkommen und der Mathematikunterricht zur Qual wird. "Wird das Problem nicht rechtzeitig erkannt und behandelt, kann die Lernstörung lebenslange Folgen haben", betont Olaf Steffen, wissenschaftlicher Leiter des ZTR. Martins Problem wurde in der Schule bemerkt. "Ein Glücksfall für den Jungen", betont Steffen. Denn dass sich die Lehrerin mit Einverständnis der Eltern an das Institut wandte, komme eher selten vor.
Bundesweite Untersuchungen besagen, dass für rund 80 Prozent der Lehrer "Rechenschwäche" noch immer ein Fremdwort ist. Und selbst wenn einige Schulen in guter Absicht Förderunterricht einrichten, führt der nicht geradewegs zum Erfolg. Um Rechenschwäche besser zu begegnen, fordert der Landesverband Legasthenie und Dyskalkulie mehr Unterstützung vom Kultusministerium. Vor allem sei eine intensivere Weiterbildung der Pädagogen nötig, damit Kinder wie Martin aus dem Teufelskreis der Mathematik herauskommen.