Quedlinburg Quedlinburg: Zuwanderer für das Welterbe
Quedlinburg/MZ. - Die Sache mit den Bänken damals war eher eine spontane Idee. "Ich hatte mitbekommen", erinnert sich Ulrich Weiße, "dass die Stadt kein Geld auftreiben konnte, um ein paar Sitzgelegenheiten aufzustellen." Also nahm sich der Rentner Weiße der Sache an: In Ostfriesland, wo der gebürtige Quedlinburger lange gelebt hatte, rührte er die Spendentrommel. Und sammelte bei Privatleuten und Firmen eine Summe, die ausreichte, 16 Bänke rund um den Schlossberg aufzustellen.
Weiße, 1952 wegen Besitzes einer Westzeitung von der Uni verwiesen und in den Westen gegangen, macht nicht viel Aufsehen darum. Der 72-Jährige, Vater von sechs Kindern und mit einer gebürtigen Quedlinburgerin verheiratet, ist Lokalpatriot reinsten Wassers. "Morgens habe ich die Zeitung immer zuerst mal quergelesen, ob irgendwo das Q-Wort steht." 150 Mal kam Weiße zu DDR-Zeiten als Gast. "Ich wusste immer, das ist meine Stadt, die hat mich geprägt, und von der werde ich nicht lassen."
Während die einst von König Otto I. zur Metropole seiner Herrschaft erklärte Harzstadt nach der Wende mehr als andere Städte in Sachsen-Anhalt unter der Abwanderung ihrer Bürger zu leiden hat, geht Weiße den umgekehrten Weg. Es ist eine Rückkehr auf Raten: Erst beantragt er die Rückübertragung des Hauses seines Großvaters am Schlossberg. Als das Nachbargebäude einzufallen droht, kauft er es hinzu. "Ich habe als Kind hier gespielt", sagt er, "da wollte ich nicht zusehen, wie das zur Ruine wird."
Das Vorhaben aber, gesteht er heute, ist schon ein wenig halsbrecherisch. Nach der Sanierung des 300 Jahre alten Fachwerk-Hauses sollen drei Mietwohnungen helfen, die Sanierung zu finanzieren. "Aber es fanden sich keine Mieter, weil die Leute nicht mehr da sind." So zog Weiße mit seiner Frau schließlich nach 54 Jahren in der Fremde zurück in die Stadt seiner Kindheit. Die war nach 1990 als bedeutender Ort deutscher Geschichte wiederentdeckt worden. Allein von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz flossen seitdem mehr als 17 Millionen Euro in die Sanierung. Und doch ist die Bodestadt nicht auf Rosen gebettet. Quedlinburg muss den Ausbau der Infrastruktur zurückstellen, um Geld für die Sanierung der historischen Altstadt freizumachen. Mit deren Fortschritt steigt zwar die Zahl der Touristen. Die Arbeitslosenquote im Landkreis, derzeit bei 24,3 Prozent, ist dennoch beständig höher als in der übrigen Harzregion.
Wohnungen stehen leer
Quedlinburg muss inzwischen auf Rückkehrer wie Ulrich Weiße und andere Zuwanderer setzen, um der düsteren Zukunft zu entkommen, die ihr die Städteplaner prophezeien. Danach verliert die 23 000-Seelenstadt, die 1990 stolze 32 000 Bürger zählte, bis 2015 ein weiteres Viertel ihrer Einwohner. Im Sanierungsgebiet der Weltkulturerbe-Stadt aber, in dem 5 300 Wohnungen liegen, steht heute bereits jede fünfte Wohnung leer.
Eine Kur gegen das Schrumpfen aber muss in der Unesco-Welterbestadt mit einem Kern aus 1 322 denkmalgeschützten Fachwerkbauten ohne die anderenorts gebräuchliche Medizin des Flächenabrisses auskommen. Im Gegenteil: Quedlinburg, unterdessen Anziehungspunkt für Touristenströme aus aller Welt, muss weiter sanieren. Auch wenn die Stadt damit Gefahr läuft, eines Tages 40 bis 50 Prozent Leerstand im historischen Stadtkern verkraften zu müssen. Um es nicht dazu kommen zu lassen, hat Stadtplaner Klaus von Ohlen im vergangenen Jahr konkrete Maßnahmen vorgestellt, die die Wohn-Attraktivität der Innenstadt steigern sollen: Schon bei der Sanierung soll auf kleinere und altengerechte Wohnungen geachtet werden. Ausreichend Grün und genügend Pkw-Stellflächen sind Pflicht, um künftig vielleicht mehr Ortsfremde auf Dauer anzulocken.
Ziel für Sportler
Für den Erfolg der Idee spricht nicht nur die einmalige Kulturlandschaft rund um die einstige Königsstadt, sondern auch die niedrigen Immobilienpreise. "Das Interesse scheint wieder zu erwachen", sagt Andreas Oppermann, Berater bei der Norddeutschen Landesbausparkasse. Interessenten aus Bremen, Hamburg und Hannover holten derzeit verstärkt Erkundigungen ein. Einen Grund sieht der Immobilienexperte in Trendsportarten wie Nordic Walking oder Langlauf. "Viele Norddeutsche entdecken, dass der Harz hervorragende Sportmöglichkeiten bietet."
Ulrich Weiße wäre jeder Zuzug nur Recht. "Ich bin immer glücklich, wenn ich sehe, dass eine junge Familie in eines der alten Häuser zieht", sagt er. Weiße jedenfalls lässt sich tragen vom großen Gefühl, in einer ganz besonderen Stadt zu leben. In der kleinen Galerie, die er im Kellergewölbe seines Hauses eingerichtet hat, zeigt er Ausstellungen zur Quedlinburger Geschichte, die bisher 50 000 Besucher anlockten. Ganz einfach hält Weiße so auch Kontakt zu seiner alten Wahlheimat Aurich: "Seit der Bänke-Aktion kommen immer wieder Leute aus Ostfriesland."