Protokoll der Horrornacht Protokoll der Horrornacht: Details auf 26 Seiten
HORDORF/MZ. - Siebeneinhalb Monate nach dem verheerenden Zugunglück von Hordorf (Börde) steht es schwarz auf weiß auf 26 Seiten Untersuchungsbericht: In Details zeichnet die Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle nach, was an jenem verhängnisvollen 29. Januar passiert ist. Ein Protokoll des Unglückstages, wie es sich aus dem Bericht ableiten lässt.
17.30 Uhr: Dienstbeginn für den 41-jährigen Lokführer des Güterzuges. Es scheint der Anfang einer ganz normalen Schicht. 18 Stunden Ruhezeit hat er gerade hinter sich, 20 Minuten hat er für den Weg zur Arbeit gebraucht. Nichts deutet auf eine "Übermüdung aufgrund fehlender Pausen bzw. Ruhezeiten" hin. An diesem Tag wird er einen Zug mit Rübeländer Kalk in Richtung Magdeburg / Salzgitter steuern. Der 41-Jährige ist kein unerfahrener Mann: Er kennt die Strecke nachweislich, hat alle erforderlichen Tauglichkeitsprüfungen und Weiterbildungen absolviert.
20.42 Uhr: Eigentlich müsste der Güterzug um diese Uhrzeit schon Oschersleben passiert haben - in seiner Fahrtrichtung hinter der späteren Unglücksstelle gelegen. An diesem Tag aber hat er zwei Stunden Verspätung. Geführt wird der Zug mit zwei Dieselloks und 32 beladenen Waggons ab dem Bahnhof Blankenburg unter dem Kürzel DGS 69192. Bei routinemäßigen Untersuchungen werden keine Mängel an der Wagentechnik gefunden. Schon in Rübeland hatte es nach Aussagen eines Wagenmeisters eine Bremsprobe gegeben. Auch später werden laut Ermittlungsbericht keine Störungen an der Bremsanlage festgestellt.
21.37 Uhr: Von Magdeburg aus setzt sich der Harz-Elbe-Express (Hex) "Georg Friedrich Händel" in Bewegung. An Bord: Ein paar Nachtschwärmer, auch eine junge Familie - Claudia R. mit ihrem Freund und ihren Töchtern Jennifer und Amalia. Sie kehren gerade von einem Berlin-Ausflug zurück, auf dem Jennifers zwölfter Geburtstag gefeiert wurde.
22.10 Uhr: Die Sichtverhältnisse in der Unglücksregion sind um diese Zeit eingeschränkt, für Hordorf gibt ein am Unfall nicht beteiligter Zugführer in einer späteren Befragung eine Sichtweite von 100 bis 150 Metern an. Konkrete Aussagen für den genauen Unglückszeitpunkt 18 Minuten später sind laut Bericht nicht möglich.
22.19 Uhr: Jetzt zeichnet die Technik etwas auf, was sich bis heute niemand erklären kann. Acht Kilometer vor der Unglücksstelle wird der Güterzug aus einer Geschwindigkeit von 71 Stundenkilometern auf Null abgebremst. Nach 36 Sekunden Stillstand fährt er weiter. Gemeldet wird der Stopp vom Güterzugfahrer nicht, für die Ermittler ist er mit einem Bremsweg von 540 Metern aber ein weiteres Indiz dafür, dass die Bremsanlagen funktioniert haben.
Zur gleichen Zeit hätte der entgegenkommende Hex in Oschersleben seinen letzten planmäßigen Halt vor der späteren Unglücksstelle. Er ist zwei Minuten verspätet.
22.21 Uhr: Für den Personenzug wird die Weiche an der eingleisigen Strecke bei Hordorf auf Fahrt gestellt und gesichert. Wenig später hört und sieht der Fahrdienstleiter im Stellwerk den Güterzug ankommen. Beim üblichen Fahrplan hätte er freie Fahrt von dem zweigleisigen in den eingleisigen Bereich der Strecke gehabt. Heute aber hat der Zug Verspätung. Der Fahrer ignoriert das Vorsignal "Halt erwarten" und 700 Meter später auch den Signalhebel, der für ihn auf "Halt" steht. Technik, die beim Überfahren solcher Signale eine Zwangsbremsung auslöst, fehlt auf der Strecke.
Vom Fahrdienstleiter wird dem 41-Jährigen noch ein Nothalt angewiesen, der Güterzug fährt aber auch über die für ihn falsch gestellte Weiche - er "fährt sie auf", wie es im Bahnerdeutsch heißt. Den Untersuchungen nach befindet der Lokführer sich vorschriftsmäßig auf der ersten Lok. Die hat auch eine so genannte Sicherheitsfahrschaltung: Regelmäßig muss der Zugführer dabei einen Taster drücken. Tut er dies nicht, weil er aus welchem Grund auch immer handlungsunfähig ist, wird der Zug 35 Sekunden später zwangsgebremst. Spätere Untersuchungen ergeben, dass die Sicherheitsschaltung funktionsfähig war sowie "ordnungsgemäß durch den Triebfahrzeugführer bedient wurde".
22.28 Uhr: Kurz hinter dem Beginn der eingleisigen Strecke stoßen beide Züge an Kilometer 42,702 frontal zusammen. Der Hex entgleist und kippt völlig zerstört auf die Seite neben die Strecke. Erst nach 500 Metern kommt der Güterzug zum Stehen. Eine Lok, die sich von ihm löst, fährt noch 130 Meter weiter. Wie spätere Auswertungen ergeben, hatte der Zugführer des Hex noch von 96 auf 66 Stundenkilometer abgebremst. Die Diagnosegeräte der Güterzuglok geben ebenfalls eine Schnellbremsung aus. Aber: "...eine Bremsverzögerung war noch nicht eingetreten". Nach der Aufzeichnung dieses Geräts hatte die Lok bei der Kollision noch ein Tempo von gut 69 Stundenkilometern.
22.30 Uhr: Vom Stellwerk Hordorf aus wird die Notfallleitstelle der Deutschen Bahn über das Unglück verständigt. Einer der größten Rettungseinsätze in der Geschichte des Landes beginnt. Anwohner retten erste Verletzte aus dem Harz-Elbe-Express, wenig später sind bereits 100 Einsatzkräfte von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten vor Ort. Für zehn Menschen aber kommt jede Hilfe zu spät. Darunter sind der Zugführer und eine Zugbegleiterin des Hex. Darunter ist auch ein Großteil der jungen Familie, die von dem Geburtstagsausflug nach Berlin kam. Claudia R., ihr Freund und ihre Tochter Jennifer sind tot. Nur Amalia (10) überlebt schwer verletzt. Erst zwei Wochen später erwacht sie in einem Krankenhaus aus dem Koma. Neben ihr gibt es noch 22 weitere Verletzte, darunter ist der Lokführer von Güterzug DGS 69192. Er schweigt bis heute zur Unglücksnacht. Die Höhe des Sachschadens wird auf sieben Millionen Euro geschätzt.
Siebeneinhalb Monate später: Die Unfalluntersuchungsstelle des Eisenbahnbundesamtes kommt zum klaren Schluss: "Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse ist davon auszugehen, dass die Ursache der Vorbeifahrt an dem Vorsignal ,Halt erwarten' und Blocksignal B ,Halt' und letztlich der Zugkollision in einer menschlichen Fehlhandlung begründet ist. Die nach dem Ausschlussverfahren durchgeführte Untersuchung lässt keinen anderen Schluss zu, da keine belastbaren Hinweise auf weitere Ursachen ermittelt werden konnten."