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Politik vor Ort Teil 2  Politik vor Ort Teil 2 : Der Landrat: Ulrich Gerstner

Von Julius Lukas 22.05.2014, 13:55
Ulrich Gerstner (r.), scheidender Landrat des Salzlandkreises, diskutiert mit Eberhard Rettig, Ortsbürgermeister von Gerbitz, in dessen Wohnzimmer. Gespräche vor Ort gehören zum Alltagsgeschäft eines Landrates.
Ulrich Gerstner (r.), scheidender Landrat des Salzlandkreises, diskutiert mit Eberhard Rettig, Ortsbürgermeister von Gerbitz, in dessen Wohnzimmer. Gespräche vor Ort gehören zum Alltagsgeschäft eines Landrates. Engelbert Pülicher Lizenz

Halle (Saale)/MZ - Der Empfang ist herzlich. Händedruck, Schulterklopfen. „Ulrich“, grüßt der Hausherr. „Alles Gute, Eberhard“, entgegnet der Gast. Es ist Dienstag, kurz nach zehn Uhr in Gerbitz, einem 620-Einwohner-Dorf vor den Toren von Bernburg. Auf den Straßen des Ortes ist nichts los. Bei Eberhard Rettig jedoch wird gefeiert. Der Ortsbürgermeister von Gerbitz wird 70 Jahre alt. Da kommt sogar Ulrich Gerstner vorbei.

„Er ist ein verdienter Kommunalpolitiker“, sagt der Landrat des Salzlandkreises (60), als er sich in Rettigs Stube auf das Sofa setzt. Es gibt Schnittchen und Kaffee. Gerstner trinkt einen Saft. Er könne natürlich nicht zu jedem runden Geburtstag eines Bürgermeister persönlich kommen. „Da gibt es ja über hundert im Landkreis.“

Aber manchmal, wie heute, passe es. Außerdem kennt er Rettig schon lange. Beide sind in der SPD. Gerstner wurde in Nienburg, der Gemeinde, zu der Gerbitz gehört, geboren. In der Lokalpolitik sind sie sich immer wieder begegnet. Schnell kommt das Gespräch auf das Gerätehaus der örtlichen Feuerwehr. 2012 wurde es saniert. „Dafür haben wir jahrelang gekämpft“, sagt Eberhard Rettig. Gerstner unterstützte sie dabei. „Ohne den Landrat wäre das nicht möglich gewesen.“

Nachterstedt und die Flut

Der Besuch in Gerbitz ist ein Extrem, das eine Ende des Aufgabenspektrums eines Landrates. Wenn der oberste Beamte des Kreises sich in die Stube eines Ortsbürgermeisters setzt, ist das Basisarbeit. Der Plausch am Vormittag als Kontaktpflege zum Fundament der Kommune. Ulrich Gerstner kennt jedoch auch das andere Extrem, den Katastrophenfall. In seiner Amtszeit hat er Situationen erlebt, in denen es um Menschenleben ging und in denen er entscheiden musste.

Lesen Sie auf Seite 2, wie Ulrich Gerstner Katastrophensituationen wie den Erdrutsch von Nachterstedt oder die Flut erlebt hat.

Seit 20 Jahren ist Gerstner Landrat. So lange, wie kein anderer seiner zehn Amtskollegen in Sachsen-Anhalt. Von 1994 bis 2007 leitete er den Kreis Bernburg. Dann wurden die Kommunen im Land neu zugeschnitten. Aschersleben, Schönebeck und Bernburg fusionierten zum Salzlandkreis und Gerstner wurde der erste Landrat des neuen Konstrukts. „In den letzten sieben Jahren haben wir daran gearbeitet, die drei Regionen zu einer zu verschmelzen“, sagt er. Das ging nicht ohne Widerstand. Niemand wollte gerne etwas abgeben. „Neben den Strukturen mussten auch Menschen zusammengeführt werden“, sagt Gerstner. Die Harmonisierung ist zum Teil noch immer nicht abgeschlossen. „Aber ich spüre, dass so etwas wie ein Kreisgedanke da ist“, sagt der Landrat. Darauf sei er stolz. Spricht man mit ihm über seine Amtszeit, merkt man jedoch auch, dass sie ihn Kraft gekostet hat. „Die letzten sieben Jahre waren hart“, sagt Gerstner. Nicht nur wegen der Fusion.

Nachterstedt liegt im Salzlandkreis. Elbe und Saale fließen hier. Das Unglück am Concordia See 2009 mit drei Toten, das Hochwasser im vergangenen Jahr – Ausnahmesituationen, auch für einen Landrat. „Wir hatten im Juni 31 Tage lang Katastrophenzustand“, erzählt Gerstner. In dieser Zeit hörte alles auf sein Kommando. „Es gab eine Situation, in der wir nur noch zehn Minuten hatten, um Leute aus einem Dorf zu evakuieren. Und ich musste das entscheiden“, sagt Gerstner. Die Bundeswehr, die Polizei, der Katastrophenstab – alle warteten auf seine Ansage.

So war es auch 2009, als nach dem Erdrutsch in Nachterstedt die Frage im Raum stand, ob die Anwohner noch einmal in ihre akut einsturzgefährdeten Häuser dürfen, um persönliche Gegenstände zu holen. „In solchen Situationen stehst du ganz allein da“, sagt Gerstner. Beim Hochwasser entschied er sich für die Zwangsevakuierung. Die Leute in Nachterstedt durften noch einmal in ihre Häuser. Und wenn etwas passiert wäre? „Dann hätte ich mit den Konsequenzen leben müssen“, sagt Gerstner.

Vom Kreistag zum Landrat

Zwischen den Katastrophen und dem Plausch am Vormittag liegt viel alltägliche Arbeit. Gerstner sieht sich selber als Chef eines kleinen Konzerns. Und sein Unternehmen, der Landkreis, produziert Dienstleistungen: Die Abfallentsorgung zum Beispiel oder den Personennahverkehr. Dafür, dass diese Aufgaben erfüllt werden, ist der Landrat zuständig. Er organisiert die Verwaltung, sitzt in Vorständen und Aufsichtsräten und ist bei Kreistagssitzungen und in Ausschüssen dabei. Hinzu kommen repräsentative Aufgaben.

Landräte sind Beamte auf Zeit. In Sachsen-Anhalt werden sie in die Besoldungsgruppen B4 bis B6 eingestuft – je nachdem, wie viele Einwohner ihr Landkreis hat. Ihr Verdienst liegt zwischen 7174 und 8054 Euro pro Monat. Hinzu kommen Aufwandsentschädigungen und Sitzungsgelder. Nach ihrer Amtszeit steht Landräten eine Pension zu.

Nicht viele. Er muss Deutscher sein oder Bürger eines Staates der Europäischen Union. Wer unter 21 Jahre alt ist oder sein 65. Lebensjahr vollendet hat, kann nicht antreten. Mit der Bewerbung muss eine bestimmte Anzahl an Unterschriften von Unterstützern aus dem Landkreis eingesandt werden. Wer diese Anforderungen erfüllt, kann Landrat werden. Eine besondere Ausbildung ist nicht gefordert. Ebenso müssen die Kandidaten keiner Partei angehören. In Sachsen-Anhalt sind sieben Landräte Mitglied der CDU, einer ist in der SPD und einer gehört der Partei Die Linke an. Zwei sind politisch nicht gebunden.

Einen festen Tagesablauf gibt es nicht. Landräte reisen von Termin zu Termin. Dazu gehören viele Sitzungen, aber auch repräsentative Veranstaltungen wie Spatenstiche oder Grußwörter. In der Regel bekommen Landräte auch mehr Einladungen, als sie wahrnehmen können. Oft sind sie auch am Abend noch unterwegs. Insbesondere, wenn sie bei Sitzungen dabei sein müssen. Dann kann es auch mal bis Mitternacht gehen. (jul)

Lesen Sie auf Seite 3, wie Landrat Gerstner trotz geringer kommunalpolitischer Erfahrung zum Landrat wurde.

So wie in Gerbitz, wo der Plausch nach gut einer halben Stunde beendet ist. Der Saft ist leer und Gerstner fährt zurück in sein Büro nach Bernburg. Der Weg führt am Sodawerk vorbei, das mitten in der Stadt steht. Gerstner hat in so einem Werk seine Berufsausbildung gemacht. In Staßfurt war das. Danach studierte er, wurde Berufsschullehrer. Zur Politik kam er erst nach der Wende. „Ich wollte selber etwas gestalten. Die Chance gab es vorher nicht“, sagt Gerstner. Er ging zur SPD und landete im Kreistag. Als seine Partei 1993 den amtierenden Landrat abwählen will, soll das nicht ohne eigenen Kandidaten geschehen. „Alle guckten mich an, und dann musste ich es machen.“ Kommunalpolitische Erfahrung hatte er fast nicht. 1994 wurde er trotzdem gewählt. Und dann noch zwei weitere Male.

Kräftezehrende Jahre

Doch nun ist Schluss. Nicht weil es an Begeisterung fehlt. Schon jetzt macht er sich darüber Gedanken, wie viele Veterinärmediziner der Landkreis bräuchte, wenn der heiß diskutierte Schlachthof in Bernburg gebaut werden würde. Es sind eher die kräftezehrenden letzten Jahre, die Gerstner von der vierten Amtszeit abhalten: „Ich will nicht, dass ein Arzt für mich entscheidet, dass ich aufhören muss.“

Bis zum 10. Juli dauert seine Amtszeit. Am 11. Juli wird er dann zum ersten Mal seit 20 Jahren nicht mehr Landrat sein. „Es gibt einige Ehrenämter, die ich weiter behalten will“, sagt Gerstner. Als Berater tätig zu sein, könne er sich auch vorstellen. Vor allem aber will er mehr Freizeit haben. So wie an diesem Dienstag. Der nächste Termin hat abgesagt. Am Nachmittag steht nur noch ein Besuch im Waffenamt an, das von Schönebeck nach Bernburg umgezogen ist. Dann ist Feierabend. Und vielleicht verschlägt es Gerstner noch einmal in zivil nach Gerbitz. Im Dorfkrug stößt Eberhard Rettig auf seinen Geburtstag an.