MZ-Serie Lebensträume Teil 8 MZ-Serie Lebensträume Teil 8: Geheimer Speicher

Wittenberg - Eigentlich wollte Ingo Weise den 37 Meter hohen Kornspeicher gar nicht haben. Eigentlich wollte er sich ein Häuschen auf der Wiese bauen, die direkt neben dem grau und globig in den Wittenberger Himmel ragenden Gebäude liegt. Das Grundstück hatte er am 17. Januar 2007 erworben. 2.000 Quadratmeter groß, idyllisch am alten Hafen der Lutherstadt gelegen, den Elbe-Radweg vor der Tür.
Doch einen Tag nach dem Kauf kam ihm ein Unglück dazwischen. Am Abend des 18. Januar tobte der Orkan Kyrill über die Lutherstadt. Bäume wurden entwurzelt, Dächer abgedeckt. Auch Weises Grundstück war betroffen. „Das sah aus, wie ein Schlachtfeld“, erinnert sich der 52-Jährige. Von allen Seiten hatte Kyrill Häuserteile auf Weises Wiese geweht. Auch das Dach des Kornspeichers verteilte der Orkan fast vollständig auf dem Areal. „Eigentlich wollte ich ja schnell mit dem Hausbau beginnen“, sagt Weise. Doch daran sei damals nicht mehr zu denken gewesen.
Nichts Schnörkeliges, Buntes oder Rundes
Weise steht, während er über die Wintertage 2007 erzählt, in einem riesigen Raum in der untersten Etage des Kornspeichers. 90 Quadratmeter ist das Zimmer groß, Wohn- und Arbeitsbereich in einem. Der Boden ist gefliest. Die Wände sind weiß. Es dominieren eckige Formen und glatte Flächen. „Man kann hier nichts Schnörkeliges, Buntes oder Rundes einbauen“, sagt Weise. Das würde nicht zum Stil des Industriebaus passen.
Der Ingenieur, der sich auf die Entsorgung von Altlasten spezialisiert hat, ist ein praktischer Typ. Einer, der Dinge anpackt. So war es auch, nachdem Kyrill sein Grundstück verwüstet hatte. Damals dachte sich Weise, dass das nicht das letzte Mal gewesen sein könnte, dass vom Kornspeicher etwas auf seine Wiese fällt. Der Besitzer des Getreidelagers hatte kein Interesse an der Instandsetzung des imposanten Baus. Ein Abriss war auch unwahrscheinlich, weil das Silo gleich doppelt geschützt ist: Als Einzeldenkmal und als Teil des Flächendenkmals „Alter Hafen“.
Voller Unrat
Zwei Wochen nach dem Orkan schaut sich der Ingenieur das Innere des Silo an. „Alles war mit Unrat zugemüllt“, erzählt er. Die Wände waren vollgeschmiert, sogar Spuren eines Feuers seien zu sehen gewesen. Doch trotz dieser augenscheinlichen Makel, erkannte Weise auch Potenzial in dem Betonbauwerk. „Allein die Größe war beeindruckend“, sagt er. Weise kaufte den Getreidespeicher. „Wenn ich heute darüber nachdenke, war das eigentlich total verrückt.“
Das Riesensilo offenbarte nämlich schnell seine Tücken. „Ich wollte es als Wohnhaus und als Gewerberaum für mein Ingenieurbüro nutzen“, sagt Weise. Klingt einfach, war es aber nicht. Das hing vor allem mit dem Aufbau des Speichers zusammen. Den muss man sich als einen von einem Spitzdach gekrönten, aus Stahlbeton gegossenen Kubus vorstellen. Mit Keller und Erdgeschoss zusammen hat der 37 Meter hohe Koloss acht Etagen. Allerdings ist der Kern des Quaders unbrauchbar. Der besteht aus 25 achteckigen Röhren, dem ehemaligen Speicher. Jede von ihnen ist 20 Meter lang und kann mit 1.000 Tonnen Getreide gefüllt werden. Der Speicher nimmt gut die Hälfte des Gebäudes ein. „Mein Architekt hat davon abgeraten, die Röhren anzutasten“, sagt Weise. Es sei nämlich unklar, wie das Gebäude statisch beschaffen ist. „Wenn man den Speicher verändert, könnte das Haus instabil werden“, erklärt Ingenieur Weise.
Auf der Suche nach Aufzeichnungen
Die statischen Bedenken hängen auch damit zusammen, dass es fast keine Bauunterlagen zu dem Silo gibt. Schon kurz nachdem er es gekauft hatte, machte sich Weise zusammen mit seinem Vater auf die Suche nach Aufzeichnungen. „Wir stellten schnell fest, dass es weder im Stadt-, noch im Landesarchiv etwas zu finden war“, erzählt Weise. Auch in der Lokalpresse sei nichts geschrieben worden. Das allerdings heizte den Nachforschungsdrang von Vater und Sohn weiter an. „Erst im Bundesarchiv wurden wir dann endlich fündig.“
Aus den Unterlagen dort entnahmen sie, dass der Speicher Teil der Kriegsvorbereitungen im Dritten Reich war. „Damals wurden in allen größeren Städten Silos gebaut, um die Verteilung des Getreides steuern zu können“, erklärt Weise. Die Speicher waren dabei alle gleich aufgebaut. „Man hatte ein Modulsystem entwickelt, dass nur in der Größe variabel war.“ Das Kornhaus in Wittenberg sei mit seiner Kapazität von 25.000 Tonnen eine der kleineren Lagerstätten gewesen.
Speicher waren kriegswichtige Bauten
Der Fund im Bundesarchiv klärte auch darüber auf, warum sie nirgendwo sonst Unterlagen entdeckten. „Die Speicher wurden als kriegswichtige Bauten eingestuft“, sagt Weise. Deswegen wurde bereits bei ihrem Bau darauf geachtet, dass nicht über sie berichtet wird. Die Absicht, möglichst unbemerkt zu bleiben, erkenne man laut Weise noch heute am grauen Putz des Speichers. „Der war typisch für Wittenberg.“ In anderen Orten hatten die Speicher Ziegelfassaden oder ein aufgemaltes Fachwerk. „Damit sollten sie bei möglichen Bombenangriffen nicht so sehr auffallen.“
Nach Weises Recherchen gibt es rund 120 solcher Speicher in Deutschland. Die seien aber bis auf eine Ausnahme aller verfallen und ungenutzt. „Nur in Rostock ist im unteren Teil ein Disco“, erzählt Weise. Er sei der erste, der ein solches Gebäude komplett ausbaut. Dach, Keller und Erdgeschoss hat der 52-Jährige schon fertig. Auf den untersten zwei Etagen hat er sein Ingenieurbüro und einen Wohnbereich eingerichtet. Als nächstes will er Stockwerk eins und zwei ausbauen. „Wenn das fertig ist, sollen die anderen Etagen folgen“, sagt Weise.
Ganz oben, unter dem Dach, will er irgendwann einmal wohnen. Dort befindet sich derzeit noch ein 240 Quadratmeter großer, jedoch komplett leerer Raum. Nur die Fenster sind bereits neu. Durch sie hat man einen grandiosen Blick auf Elbaue und Wittenberg. Wann Weise dort einziehen wird, ist jedoch noch unklar. „Das hängt von Zeit, Geld und Baugenehmigungen ab“, sagt er. Eine Weile kann es also noch dauern. (mz)