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MZ-Serie "Lebensträume" Teil 3 MZ-Serie "Lebensträume" Teil 3: Oase auf dem Dach in Quedlinburg

Von Julius Lukas 06.08.2015, 19:14
Mitten in Quedlinburg: der Dachgarten von Familie Knackstedt mit Pool, Sandkasten und Kräuterbeet
Mitten in Quedlinburg: der Dachgarten von Familie Knackstedt mit Pool, Sandkasten und Kräuterbeet Andreas Stedtler Lizenz

Quedlinburg - Über ihren ersten Eindruck von dem Haus, in dem sie heute lebt, muss Korinna Knackstedt noch immer schmunzeln. Damals, Ende 2004, zeigte ihr Mann René ihr die Immobilie, die er kaufen wollte. „Als ich in das Gebäude reinkam, hatte ich nur einen Gedanken: Das ist ja viel zu klein hier“, erzählt Knackstedt. Es habe keinen Strom gegeben, alles sei dunkel gewesen und das Haus obendrein noch mit diesen Silos verbaut. „Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass da mal eine Wohnung reinpassen würde“, sagt die Grundschullehrerin.

Es ist ein Donnerstagnachmittag, als Korinna Knackstedt diese kleine Episode erzählt. Über Quedlinburg, der Weltkulturerbe-Stadt, scheint die Sonne und die 39-Jährige sitzt mit einem Stück Erdbeerkuchen auf der Dachterrasse ihres Hauses. Und es ist genau diese Situation, die sie schmunzeln lässt. Denn die Dachterrasse ist eher ein Dachgarten - wohl der größte in ganz Quedlinburg, eine Oase auf dem Dach. 120 Quadratmeter Fläche, mit Planschbecken, Hängematte und eigenem Komposthaufen. „Und die drei Etagen unter uns sind noch einmal so groß“, sagt René Knackstedt. Er schmunzelt nun auch. „Das mit dem 'zu klein' hatte sich dann doch nicht bewahrheitet“, ergänzt seine Frau.

Es war allerdings auch nicht einfach, sich vorzustellen, was aus dem Haus einmal werden könnte. Als René Knackstedt es entdeckte, war es ein Backsteinklotz ohne Fenster, gefüllt mit sechs riesigen Stahlbeton-Silos. „Das Gebäude gehörte zu einer Großbäckerei, die nach der Wende Pleite ging“, erzählt der 38-Jährige. Knackstedt war eigentlich an dem ganzen Areal interessiert, das gut 15 Jahre ungenutzt vergammelte. 2 500 Quadratmeter Fläche, in der Quedlinburger Neustadt - jenem zentrumsnahen Quartier, in dem sich einst die landwirtschaftlichen und industriellen Betriebe niederließen.

„Ich wollte mit einem Bekannten Wohnungen in die Bäckerei bauen“, sagt der gelernte Zimmerermeister, der heute als Produktionsleiter in einem Betonwerk arbeitet. Das Projekt zerschlug sich jedoch. Derzeit baut das Rote Kreuz auf dem Gelände ein Demenz-Zentrum. Übrig blieb für die Knackstedts der Backstein-Quader. 2005 kauften sie ihn.

Allerdings standen dem Wohntraum die sechs Silos entgegen. „Darin wurde das Mehl für die Großbäckerei gelagert“, sagt Knackstedt. Seine Frau hat eine Mappe mit Bildern geholt, die sie auf der Dachterrasse zeigen. Auch ihre beiden Kinder schauen mit zu. Finja, vier Jahre alt und ein blonder Wirbelwind. Tamira, sieben Jahre, ebenso blond aber weniger Wirbelwind. Auf den Fotos sind die grauen Betonkolosse zu sehen – drei Meter breit, vier Meter lang und acht Meter hoch. „Die haben fast das ganze Gebäude gefüllt“, sagt Knackstedt. Das Frage war nun: Wie soll man sie rausbekommen?

„Wir brauchten einen Bagger, der sie abmeißelt“, sagt Knackstedt. So ein großes Gerät passte aber nicht mal annähernd in das zugebaute Gebäude. Mehrere Experten schauten sich das Dilemma an. Einer wollte sprengen - „zu gefährlich“, sagt Knackstedt. Ein anderer wollte die Silos mit Lasertechnik zerstören - „zu teuer“. Und ein weiterer wollte das Haus einfach aufschneiden, um mehr Platz zu bekommen - „das haben wir dann gemacht“.

Eine Spezialfirma aus Magdeburg säbelte mit einem Diamantseil 2,5 Meter breite und sechs Meter hohe Löcher in die Fassade. „Damit hatten wir gleich zwei Probleme gelöst“, sagt Knackstedt. Zum einen kamen sie so an die Silos heran. „Und zum anderen wurden aus den Löchern unsere Fensterfronten.“ Jetzt gab es Licht im dunklen Klotz und auch der Bagger konnte anrücken. Er zerbröselte die Stahlbetonbehälter zu 100 Kubikmeter Schutt. Hinzu kamen weiter 50 Kubikmeter Unrat, der abseits der Silos lag. „Als das alles raus war, stand da ein komplett hohler Vogel, mit dem ich machen konnte, was ich wollte“, sagt Knackstedt.

Und was er dann gemacht hat, zeigt der 38-jährige bei einem Gang durch das Haus. Als erstes fällt das Plakat auf, das am Treppenaufgang hängt. „Echte Roedersdorfer Biere - sie sind am bekömmlichsten“, steht darauf. „Das Gebäude wurde 1890 als Eislager für eine 20 Kilometer entfernte Brauerei gebaut“, erzählt René Knackstedt. Davon zeugen heute noch die 65 Zentimeter dicken Wände. Erst seit 1960 habe es zur Bäckerei gehört. „Das Bier wird aber schon lange nicht mehr gebraut.“

Solche Details sind in vielen Ecken zu finden. Der Backsteinbau der Knackstedts ist kein Industrieloft von der Stange - das wird schnell klar. Drei Etagen haben sie in den Quader eingezogen. Die Ebenen sind durch eine freie Treppe verbunden. Türen gibt es kaum und die Zimmer werden auch mal mit Vorhängen abgetrennt. Manche Ecken wirken etwas chaotisch – wie der Eingangsbereich: Ein riesiger Raum mit einer Galerie, die bis oben hin vollgestellt ist. „Das soll mal die Garage werden“, sagt René Knackstedt. Bis das soweit sei, dauere es aber noch.

„Nachdem wir das Haus gekauft hatten, haben wir jede freie Minute daran gearbeitet“, sagt er. Schon als die Silos raus waren, zogen sie ein. „Wir haben dann eine ganze Weile in einem Klappfix gelebt“, erzählt Korinna Knackstedt. Den DDR-Wohnzeltanhänger – offizielle Bezeichnung „Camptourist“ - stellten sie einfach in das Haus. Genug Platz war ja da.

Nach und nach wurden der Backsteinbau bewohnbarer. 2008 wurde dann Tamira geboren, 2011 Finja. „Die beiden sind auf einer Baustelle groß geworden und kamen zu Beginn sicher oft zu kurz“, sagt René Knackstedt. „Das wollten wir auf Dauer nicht so.“ Deswegen verlangsamten sie das Tempo. Das Ziel ist jetzt ein Zimmer pro Jahr herzurichten. „Aber es lässt sich auch jetzt schon sehr gut hier leben“, sagt Korinna Knackstedt. Und wenn man in ihrem Garten auf dem Dach sitzt, in dieser Oase über der Stadt, ein Stück Erdbeerkuchen vor sich - da kann man nur zustimmen. (mz)

Im nächsten Teil der Serie stellen wir das erste Hausboot auf der Goitzsche vor.

Familie Knackstedt in ihrem Haus in Quedlinburg
Familie Knackstedt in ihrem Haus in Quedlinburg
Andreas Stedtler Lizenz