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Mit Tempo 300 nach Erfurt Mit Tempo 300 nach Erfurt: Berge versetzen für den ICE

Von Alexander Schierholz 17.10.2015, 21:35
Seine Landschaft, seine Strecke: Iven Jede am Westportal des Osterberg-Tunnels, hinter sich die Trasse und das Unstruttal.
Seine Landschaft, seine Strecke: Iven Jede am Westportal des Osterberg-Tunnels, hinter sich die Trasse und das Unstruttal. Andreas Stedtler Lizenz

Halle (Saale) - Von hier oben, direkt oberhalb des Westportals des Osterberg-Tunnels, hat man den besten Blick. In einem weiten eleganten Bogen überspannt die Unstruttal-Brücke der ICE-Strecke Erfurt-Halle/Leipzig, 2,7 Kilometer lang, den Fluss, das Tal, Felder und Wiesen, den Ort Wetzendorf. Ab Dezember wird der ICE mit Tempo 300 in 50 Metern Höhe über das Tal hinwegdonnern. Eines der ehrgeizigsten der „Verkehrsprojekte Deutsche Einheit“ wird dann vollendet sein.

Als Iven Jede ein Kind war, vor 30 Jahren, war daran nicht zu denken. Es gab keine Brücke. Keine ICE-Strecke. Keine Einheit. Jede, 37, aufgewachsen in Wetzendorf und im Nachbarort Wennungen, kennt hier im Unstruttal jeden Winkel. Früher ist er als Jugendlicher überall mit seinem Moped rumgedüst. Da konnte man, erzählt er grinsend, auf den Feldwegen auch schon mal eine Simson ohne Zulassung testen. Damals, als das hier, wie Jede sagt, eine „Agrarsteppe“ war. Acker an Acker, so weit das Auge reichte. Heute werden die Felder durch Büsche, Hecken und Baumreihen aufgelockert. Grünflächen sind wie Tortenstücke in die Äcker geschnitten.

Die Strecke Halle-Erfurt ist Teil der Schnellfahrtrasse Nürnberg-Berlin. Zwischen Halle beziehungsweise Leipzig und Berlin ist die Strecke bereits ausgebaut. Der Abschnitt Erfurt-Nürnberg soll im Dezember 2017 fertig sein.

Die Fahrzeiten werden sich wesentlich verkürzen. Nach Erfurt etwa braucht der ICE aus Halle künftig nur noch 35 Minuten statt mehr als einer Stunde, nach München dauert es ab Dezember 2017 knapp drei Stunden, zwei Stunden weniger als heute. (asc)

„Die Landschaft hat wieder Struktur bekommen“, sagt der Landschaftsplaner. Und wirkt, als staune er darüber. Dabei ist das doch auch sein Werk.

Mit der ICE-Strecke hat die Bahn massiv in die Natur eingegriffen. 120 Kilometer Trasse zwischen Erfurt und Halle. Drei Tunnel. Sechs Brücken. Ein solcher Eingriff muss ausgeglichen werden, sagt das Gesetz. Deswegen all die Feldhecken und Streuobstwiesen, die Büsche und das Grünland, der renaturierte Unstrut-Altarm. Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen heißt das im Planer-Jargon. Mehr als 2 300 davon hat Jede zwischen Erfurt und Halle betreut. Er kontrolliert, ob die Projekte den Vorgaben entsprechen und korrekt umgesetzt werden.

Iven Jede hat die Landschaft seiner Kindheit umgekrempelt. Ein Glücksfall, findet er. Mehr als sechs Jahre macht er den Job jetzt. Die Bahn hatte die Stelle ausgeschrieben, er suchte etwas Neues, las die Anzeige, dachte: Da musst du dich bewerben! Da geht es um deine Heimat!

Er kennt jeden, jeder kennt ihn

Als Treffpunkt für eine kleine Rundfahrt hat Jede einen Supermarkt-Parkplatz vorgeschlagen. Schon dort grüßt er rechts, grüßt links, schüttelt Hände. Später im Ort: den Hügel rauf sein Elternhaus, rechts hinter den Bäumen seine alte Schule, links der Imbiss eines Sportkameraden. Jede wohnt in Leipzig, weil er sich das tägliche Pendeln sparen will, aber er ist immer noch verwurzelt in Wetzendorf. Er kennt jeden, jeder kennt ihn. Seine Eltern wohnen noch hier. Er ist Präsident im Sportverein und kickt in der ersten Mannschaft, Kreisklasse. Die Wochenenden verbringt er regelmäßig im Dorf. Und seine Arbeit ist dann auch immer Thema.

Iven Jede kann sich nicht wegducken wie einer, den die Bahn eingeflogen hat. Der plant, die Leute nicht kennt und die Dörfer nicht, der irgendwann wieder weg ist. Will er auch gar nicht. „Ich sitze mit den Bauern beim Volksfest zusammen und trinke ein Bier. Die kennen meine Telefonnummer, die wissen, wo meine Eltern wohnen.“

Die Bauern. Gerade sie waren anfangs in Aufruhr, als es losging mit der ICE-Strecke. Land mussten sie abgeben, damit Platz ist für Gehölze und Grünstreifen. Damit Kleintiere und Insekten Lebensräume und Rückzugsorte finden. Die Landwirte klagen, ihnen werde so die Arbeit erschwert. Mit ihren schweren Maschinen müssten sie nun herumfahren um die Hecken.

Natürlich gab es da bei den Verhandlungen auch mal ein lautes Wort, sagt Jede. „Was ist das für ein Blödsinn“, das hat er sich oft anhören müssen. „Aber abends in der Kneipe haben wir dann doch wieder friedlich zusammengesessen.“

Wer die Leute kennt und die Gegend, der kann leichter Kompromisse finden. So hat Jede das immer gehalten. Etwa als in Karsdorf Riesenärger drohte, weil die Planer ausgerechnet auf der Festwiese Bäume pflanzen wollten. Bloß nicht!, sagte Jede und fand einen anderen Ort. Wenn es möglich war, ließ er nicht die guten Ackerböden bepflanzen, sondern solche von schlechterer Qualität. Oder Straßenränder, um den Landverlust für die Bauern gering zu halten.

Lesen Sie auf der nächsten Seite vom Gewinn dieser Arbeit für die Natur und die Artenvielfalt.

Er hätte auch Dienst nach Vorschrift machen können, ohne nach Kompromissen zu suchen. Aber dann hätte er sich bald nicht mehr in der Kneipe und auf dem Fußballplatz blicken lassen können.

Dort also, wo er sowieso immer gefragt ist, wenn bei der Bahn wieder mal was schief läuft. Weil man ja weiß in Wetzendorf: Der Iven, der ist doch bei der Bahn! Wenn im ICE mal wieder die Klimaanlage ausgefallen ist. Oder wenn der Zug mal wieder Verspätung hatte. Jede grinst: „Dann weiß ich, dass ich wieder eine Stunde interviewt werde, wenn ich sonntags ins Sportlerheim gehe.“

Iven Jede wird nicht müde, darauf hinzuweisen, welcher Gewinn seine Arbeit für die Natur und die Artenvielfalt ist. Am Himmel über dem Unstruttal zieht der Rotmilan seine Kreise. Der in seinem Bestand bedrohte Greifvogel findet hier nun wieder mehr Nahrung, Mäuse, die sich auf Grünland tummeln. Die Feldlerche hat auf den Wiesen neue Möglichkeiten zum Brüten. Für den Turmfalken haben sie Nistkästen aufgehängt.

Ein Hotel nur für Fledermäuse

Ein Feldweg mitten im Nirgendwo, links ein Wäldchen, rechts ein Wildschutzzaun, dahinter ein karg bewachsener Hang. Mittendrin etwas, das Laien für einen Betonbunker halten könnten. „Das ist unser Fledermaushotel“, sagt der Landschaftsplaner stolz. Sie haben hier an Unstrut und Finne im Wortsinne Berge versetzt, haben mit dem Aushub aus dem Bibratunnel, sieben Kilometer lang, einen künstlichen Hügel aufgeschüttet. Geländemodellierung nennen die Fachleute das.

Praktischer Nebeneffekt: Im neuen Hügel lässt sich der Unterschlupf für die Fledermäuse unterbringen, er dient als Winterquartier und Wochenstube. Nimmt die Natur an, was der Mensch ihr schafft? Aber ja, sagt Jede. Die Nachweise: Sie haben Fledermauskot gefunden und die Reste von Insekten, Fliegenflügel etwa, die der Fledermaus nicht schmecken. Unter einschlägigen Experten gilt die Unterkunft mittlerweile als vorbildlich.

Es gab eine Zeit, da hatten die Bahn und ihr Mammut-Projekt ICE-Strecke bei vielen in der Region keinen guten Ruf. Nicht nur bei den Landwirten. Wetzendorf zum Beispiel. Wer will schon unter einer Betonbrücke wohnen, die vielen als Inbegriff der Landschaftsverschandelung gilt? Das hat sich gebessert, sagt Iven Jede. Mittlerweile hätten viele gemerkt, dass die Trasse auch Jobs mit sich bringe - und damit Zukunft. „Viele meiner Freunde und Bekannten haben so Arbeit bekommen.“

Einige konnten über die Arbeitsagentur einen Lkw-Führerschein machen und fahren nun für die Baufirmen. Andere arbeiten bei Handwerkern in der Region, die als Subunternehmer oder Auftragnehmer für die großen Baukonzerne tätig sind. Der Klempner etwa, der an der Baustelle vorm Tunnelportal die Bautoiletten installiert hat. „Die ICE-Strecke hat der Region einen Schub gebracht“, davon ist Jede überzeugt.

Ab Dezember werden die Züge rollen über die Unstruttalbrücke. Iven Jedes Job an diesem Teil der Strecke ist im Wesentlichen erledigt. Nur ein paar Projekte sind noch offen. Mal will ein Landwirt nicht verkaufen, mal lässt sich ein Bepflanzungsplan nicht umsetzen, weil das Grundwasser zu hoch steht. Dann muss der Plan erst geändert werden. Jede hat neue Projekte übernommen. Beim Umbau der Bahnknoten in Halle und Leipzig kümmert er sich um Lärmschutz und die Entsorgung von Altlasten im Boden. „Eine ganz andere Herausforderung“, sagt er.

Die Strecke aber, die wird sein Baby bleiben. So oft es geht, wird er die schmale Baustraße zum Westportal des Osterberg-Tunnels hinauffahren und von dort in die Landschaft blicken. Seine Landschaft. „Ich bin froh, dass das Unstruttal nicht verloren gegangen ist“, sagt er nachdenklich. „Ich werde hier oben stehen, mir ein Pfeifchen anzünden und mich freuen, wie alles wächst.“ (mz)