Literatur Literatur: Neuer Harry Potter-Band wird in Pößneck gedruckt
Pößneck/MZ. - Die Quelle allen Glücks tarnt sich mit Unauffälligkeit. Ein silbergrauer Hallen-Klotz hinter einem grünen Maschendrahtzaun, ein Rolltor, eine Blumenrabatte. Kein Stacheldraht, keine scharfen Hunde, keine Kameras, jedenfalls keine sichtbaren. Das Gelände der Firma GGP Arvato im Pößnecker Gewerbegebiet West könnte eine Bleistift-Fabrik beherbergen oder eine Cola-Abfüllerei. Die schweren Trucks, die hinein- und hinausfahren, könnten Turnschuhe abholen oder Nägel.
Gucken nicht erlaubt
Tun sie aber nicht. Weshalb es nur Sekunden dauert, bis ein Fremder, der durch ein zufällig offenes Nebentor ins Werk spaziert, von einem gestrengen Wachmann aufgehalten wird: Guten Tag, wie kann ich helfen? Ahh, Sie wollen nur mal gucken? Nein, gerade gucken ist hier nicht erlaubt. Vielen Dank für den Besuch und auf Wiedersehen.
GGP, ausgeschrieben Graphischer Großbetrieb Pößneck, ist nämlich kein so ganz normales Unternehmen in diesen Tagen. Hier in der Karl-Marx-Straße, wo zu DDR-Zeiten das Moskauer Telefonbuch gedruckt wurde, flitzt seit Wochen der sechste Band von Joanne K. Rowlings "Harry Potter"-Saga von der Presse.
Ein Buch, das alle Rekorde bricht: Weltweit wurden 10,8 Millionen Exemplare gedruckt - vier Millionen mehr als beim Vorgänger, der immerhin das erfolgreichste belletristische Werk aller Zeiten war. Allein beim Online-Buchhändler Amazon sind fast 800 000 Vorbestellungen für "Harry Potter and the Half-Blood Prince" eingegangen. Selbst in Deutschland steht das Werk mit mehr als 70 000 Vorbestellern auf Platz 1 der Verkaufshitparade - und das, obwohl vorerst nur die englischsprachige Ausgabe zu haben ist.
Für Pößneck, von Johann Wolfgang von Goethe einst "ein nahrhaft Städtchen" genannt, ist Potter, der geheime berühmteste Sohn der Stadt, so längst eine Art Retter. 18 Prozent Arbeitslose zählt der 13 000-Seelen-Ort in der Orla-Senke. Großbetriebe wie das Wälzlagerwerk Rotasym machten nach der Wende zu.
Schließlich verlor die Stadt auch noch den Status des Kreissitzes. Immerhin aber übernahm der Bertelsmann-Konzern die frühere volkseigene Großdruckerei: Letztes Jahr wurden in der Marx-Straße 55 Millionen Hardcover gedruckt, unter anderem auch ein Buch des neuen Papstes Benedikt. Dazu kamen noch einmal 100 Millionen Taschenbücher.
Im Augenblick hält Harry Potter rund 1 000 Drucker in Lohn und Brot. Ist der englische Band erst fertig gedruckt, folgt sofort die deutsche Ausgabe, die am 1. Oktober in die Läden kommt. "Ist doch klar, dass die Leute ruhig sind, wenn ihnen gesagt wird, sie sollen das", meint die Frau, die gegenüber der GGP-Werkskantine ihre Einfahrt putzt.
Mauer des Schweigens
Nutzte der letzte Pößnecker Großbetrieb den letzten Potter-Band vor zwei Jahren noch, um kräftig Reklame für sich zu machen, schützt diesmal eine Mauer des Schweigens die Potter-Fabrik. Die Mitarbeiter, die in der Mittagspause schnell zum Discounter um die Ecke huschen, schütteln nur den Kopf. Die Sekretärin von Unternehmenschef Christian Schautz lehnt die Bitte um ein Interview mit dem Potter-Boss freundlich ab. Alle Mitarbeiter mussten unterschreiben, dass sie nichts verraten, im Werk herrscht Foto-Handy-Verbot, Fehldrucke wandern direkt in den Shredder. 40 zusätzliche Sicherheitsleute, raunt es im Ort, wurden eigens wegen "HP" eingestellt.
So will es der Londoner Bloomsbury-Verlag, in dessen Auftrag GGP die Potter-Bücher druckt. Keine Zeile, keine Kapitelüberschrift aus dem 672-Seiten-Wälzer darf vorab durchsickern, schon gar nicht aber sollen die Rätsel gelöst werden, an denen die Fans seit Rowlings nebulösen Ankündigungen knabbern: Wer ist der ominöse Halbblut-Prinz? Wer muss sterben? Und in wen verliebt sich Hermine?
Keine Fragen, die Falk und Christian über Gebühr beschäftigen. Die beiden 14-Jährigen, mit dem Fahrrad in der Marx-Straße unterwegs, haben natürlich gehört, dass Harry Potter im Grunde genommen ein echter Pößnecker ist. "Aber mir wäre das trotzdem zu mühsam, mich da auf Englisch durchzuackern", sagt Falk. Zumal jetzt Sommer sei und "bei dem Wetter keiner richtig Zeit zum Lesen hat". Falk, obschon erklärter Potter-Fan, wird bis zum Oktober warten. "Jetzt fahren wir lieber baden."