Überfall auf rechten Szenetreff Warum die Vorwürfe gegen eine Leipziger Studentin bröckeln
Nach einem brutalen Überfall auf einen rechten Szenetreff wird die Studentin Lina E. in Leipzig verhaftet. Der Generalbundesanwalt ermittelt. Das Bild von ihr als Anführerin einer linksradikalen Untergrundgruppe bekommt nun aber Risse.
Halle (Saale) - Am ersten Sonntag im November vorigen Jahres haben sie noch zusammengesessen auf der „Karli“, der Karl-Liebknecht-Straße, Leipzigs Kneipenmeile in der Südvorstadt. „Lass uns noch mal beim Asiaten essen gehen“, hatte Lina E. zu ihrer Freundin gesagt, die hier Ariane heißen soll. „Wer weiß, wann das wieder möglich sein wird.“
Ein Satz, leicht dahingesagt, der sich in doppelter Hinsicht als wahr erweisen sollte. Am Montag darauf beginnt in Deutschland der zweite Lockdown. Und am Donnerstag darauf, am 5. November 2020, wird Lina E. verhaftet.
Angriffe auf Rechtsextreme in Thüringen
Lina E. aus Leipzig, 26 Jahre alt, Studentin der Erziehungswissenschaften in Halle, geboren in Kassel, Nordhessen. Die Bundesanwaltschaft hält sie für die Anführerin einer Gruppe, die Ende 2019 zwei brutale Überfälle im thüringischen Eisenach begangen haben soll - auf einen Treff der rechtsextremen Szene und wenige Wochen später auf dessen Betreiber und seine Begleiter. Bewaffnet unter anderem mit Schlagstöcken und Reizgas.
Die Vorwürfe: gemeinschaftliche schwere Körperverletzung, besonders schwerer Landfriedensbruch, die Mitgliedschaft in einer linksextremistischen kriminellen Vereinigung. Die Bundesanwaltschaft übernimmt in der Regel, wenn es um Terrorismus geht. Oder um, so nennen es Juristen, Straftaten an der Schwelle zum Terrorismus. Die Mitglieder der Gruppe, so die Behörde, lehnten das staatliche Gewaltmonopol, das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung und den demokratischen Rechtsstaat ab.
Im Helikopter nach Karlsruhe
Am Tag nach der Verhaftung von Lina E. laufen Bilder über den Ticker, wie man sie zuletzt bei der Festnahme des Attentäters von Halle oder des Mörders von Walter Lübcke gesehen hat, beide Rechtsextremisten: ein Hubschrauber, vermummte Polizisten, schwer bewaffnet. So wird Lina E. dem Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe vorgeführt. Seitdem sitzt sie in Untersuchungshaft. Am Mittwoch teilt die Anklagebehörde mit, die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen. Es bestehe nach wie vor dringender Tatverdacht gegen E.
Viel Solidarität für Lina
In der linken Szene Leipzigs und weit darüber hinaus löst der Fall viel Solidarität aus. Im Stadtteil Connewitz, in dem die Frau zuletzt wohnte, sind „Free Lina“-Graffiti an vielen Fassaden zu sehen. Aktivisten verkaufen T-Shirts mit dem Slogan. Der Erlös soll helfen, die Kosten eines möglichen Prozesses gegen Lina E. zu decken. Nach ihrer Festnahme demonstriert die Szene für ihre Freilassung, auf Polizisten fliegen dabei Steine und Böller. Lina E., so scheint es, wird zur Märtyrerin erklärt. Aber wer ist diese Frau? Ist sie die Demokratie- und Staatsfeindin, für die die Bundesanwaltschaft sie hält? Diese Darstellung bekommt Risse.
Offen, witzig, klug
Ihre Freundin Ariane erfährt durch Linas Familie von deren Festnahme. „Ich war entsetzt“, erinnert sie sich. Das Bild, das die Karlsruher Ankläger zeichnen, entspricht nicht dem, das sie von ihrer Freundin hat. Die Frauen kennen sich durch das gemeinsame Studium in Halle. „Wir sind immer zusammen S-Bahn gefahren“, erzählt Ariane, „so haben wir uns angefreundet.“
Ariane beschreibt Lina als eine offene, witzige, kluge und politisch interessierte Person, die engen Kontakt zu ihrer Familie hält. Einmal, im Februar vorigen Jahres, gehen die beiden zusammen auf eine Demonstration. Sie protestieren gegen die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen mit Stimmen der AfD. Es bleibt das einzige Mal, dass sie zusammen demonstrieren. „Natürlich haben wir auch mal über Politik diskutiert, das bleibt ja gar nicht aus, wenn man Sozialwissenschaften studiert“, sagt Ariane. Politik sei aber nie Hauptthema gewesen. In politischen Gruppen oder Initiativen war Lina nach ihrem Wissen nicht aktiv.
Dass es da noch eine andere Lina geben könnte? Eine, wie die Bundesanwaltschaft sie sieht, Anführerin einer linksradikalen Untergrundgruppe? Für Ariane ist das unvorstellbar. „Ich glaube das nicht“, sagt sie. „Wir haben so viel Zeit miteinander verbracht, haben uns gegenseitig besucht, waren essen oder einen Wein trinken. Wir haben uns oft viermal in der Woche gesehen.“
Bekannte weist Vorwürfe gegen Lina E. zurück
Ariane hat sich geärgert über Berichte, in denen sie las, Lina sei untergetaucht oder nur pro forma an der Uni in Halle eingeschrieben gewesen. Absurd, findet sie. Sie erinnert an ihr letztes Treffen: „Wer untertaucht, setzt sich wohl kaum an einem Sonntagnachmittag an einer belebten Straße zum Essen hin.“ Im Studium schrieben sie gemeinsam eine Hausarbeit, 25 Seiten über ein ethnografisches Forschungsprojekt. Beide hatten zuletzt einen Notendurchschnitt von 1,4. „Unwahrscheinlich, das zu erreichen, wenn man angeblich gar nicht an der Uni ist“, sagt Ariane.
Am 14. Dezember 2019, nach einem der Überfälle, die der Studentin zur Last gelegt werden, stoppt die Polizei zwei Autos mit gestohlenen Kennzeichen. Vier Personen werden vorläufig festgenommen. Darunter auch Lina E. Im Sommer vorigen Jahres sitzt sie erstmals in Untersuchungshaft, wird aber nach fünf Tagen wieder freigelassen. Am 5. November wird sie erneut verhaftet.
Offenbar kaum Kontakt zur linken Szene
Den Behörden, so scheint es, ist mit der Festnahme ein Schlag gelungen gegen die linksextreme Szene, die in Leipzig so stark ist wie sonst nirgendwo in Ostdeutschland. Doch ausgerechnet Lina E., die angebliche Anführerin eines linken Rollkommandos, hat in dieser Szene offenbar so gut wie keine Rolle gespielt.
„Lina E. kennt hier kaum jemand, jedenfalls ist sie keine Schlüsselfigur der Szene“, sagt die Leipziger Linken-Landtagsabgeordnete Juliane Nagel der „Leipziger Volkszeitung“. Dennoch solidarisiert sich die Szene mit ihr, weil sie als Opfer staatlicher Repression gilt.
Soko Linx unter Erfolgsdruck
Linke Aktivisten sehen es so: Die Ermittlungsbehörden hätten unbedingt ein Ergebnis vorweisen müssen im Kampf gegen Linksextremismus. Deshalb die schweren Vorwürfe gegen Lina E. Für Straftaten, die dem linksradikalen Spektrum zugerechnet werden, ist in Sachsen eine eigene Ermittlungsgruppe zuständig, die Soko Linx. Sie ermittelt im Auftrag der Bundesanwaltschaft auch gegen Lina E.
„Die Soko Linx steht unter massivem Legitimations- und Erfolgsdruck. Um rechte Kritiker innerhalb und außerhalb der Sicherheitsbehörden zu befriedigen, will sie der Öffentlichkeit Schuldige präsentieren“, sagt Helene Zimmermann von der „Soligruppe für Lina“. Die Vorwürfe rechtfertigten keineswegs die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft.
Tatsächlich fällt die Bilanz der Soko Linx mager aus. Zwar wurden allein in den ersten sechs Monaten des vorigen Jahres 335 Ermittlungsverfahren eröffnet. Doch herausragende Fälle wie ein Brandanschlag auf eine Baustelle oder ein Überfall auf eine Mitarbeiterin einer Immobilienfirma in Leipzig Ende 2019 sind bislang nicht aufgeklärt. Im Falle zweier anderer mutmaßlich linksextremer Anschläge hatte das Landgericht Dresden Ende 2020 die Haftbefehle gegen zwei Verdächtige kassiert, aus Mangel an Beweisen.
23 Stunden am Tag eingesperrt
In wenigen Wochen steht ein wichtiger Termin für Lina E. an. Am 6. Mai wird sie sechs Monate in Untersuchungshaft sitzen. Ist bis dahin kein Hauptverfahren gegen sie eröffnet, muss ein Gericht entscheiden, ob sie weiter in U-Haft bleibt. Ihre Anwälte zweifeln an den Vorwürfen gegen ihre Mandantin. Sie werde als Kommandoführerin präsentiert, ohne Begründung, dabei sei sie nicht einmal vorbestraft, sagten Erkan Zünbül und Björn Elberling der „Zeit“. Ihre Führungsrolle werde von der Soko Linx nur konstruiert.
Ariane sehnt derweil den Tag herbei, an dem sie ihre Freundin Lina im Gefängnis in Chemnitz wird besuchen können. Doch wegen der Pandemie sind derzeit nur Besuche von Angehörigen gestattet. Vorerst schreiben die beiden sich Briefe, immerhin das ist möglich. Wie es Lina E. geht in der Haft? „Den Umständen entsprechend“, sagt Ariane, „wie es einem eben geht, wenn man 23 Stunden am Tag eingesperrt ist.“ In ihren Briefen ins Gefängnis berichtet sie Lina aus ihrem Alltag. „Ich schreibe ihr das, was ich ihr erzählen würde, wenn wir uns sehen würden.“ Es ist der Versuch, Lina E. ein Stück mit in ihr Leben zu holen. (mz/Alexander Schierholz)