Stärker als die Zeit Udo Lindenberg in Leipzig: 40.000 Fans feiern den Panik-Rocker in der Red-Bull-Arena

Leipzig - Ein heftiger Regen vor der wilden Show. Udo Lindenberg, gerade frisch über den Köpfen der 40.000 Zuschauer in der Red-Bull-Arena eingeschwebt, beschwört gleich mit Blick in den Himmel die Panikfamilie: „Der Regen soll sich verpissen, Hermine und Gustav werden schon für Sonne sorgen. Yeah!“ Hermine und Gustav? Das sind die bereits verstorbenen Eltern, einst hat er zwei Alben nach ihnen benannt.
Kein Zufall, dass Lindenberg gleich zu Beginn des Konzertes, einer Mischung aus Rock- und Liebesliedern, Varieté und Trommelwirbel-Zirkus, ihrer gedenkt. Die Panikfamilie als Leitmotiv. Rückblicke des heute 70-Jährigen, der sich Eierlikör zum Gurgeln bringen lässt: „In Gronau hab ich die Baumschule besucht. Als ich fünfzehn war, war Schluss mit der Schule. Ich dachte, für ein Rockstarleben reicht das. Den Rest kennt ihr aus den Tagesthemen, yeah!“ Der Einstieg: Die Songs „Einer muss den Job ja machen“ und „Mach mein Ding“.
Panikfamilie hat Züge einer religiösen Gemeinschaft
Erste Kollektivekstasen, weitere folgen. „Udo“-Rufe hier, „Udo“-Rufe dort, die Panikfamilie hat Züge einer religiösen Gemeinschaft. Beim Lied „Coole Socke“, die gigantische Videoleinwand zeigt Fans aller Altersgruppen, singen und springen viele Kinder um jenen Lindenberg, der just in diesem Moment wie ein liebevoller Großvater wirkt. Zum Weinen schön. Und immer dabei: Das Bombastische. Blaue, schäumende See auf der Videoleinwand, der Rockliner durchkreuzt die Ströme der Zeit, ein Ufo landete. Lindenberg tänzelt, wirbelt das Mikro, Artisten balancieren in der Luft, extralange Trommel – und Gitarrensoli.
Der Hut bleibt auf, darunter verschwitzte Haare und Schatten unter den Augen, der Nietengürtel sitzt perfekt, schwarze Klamotten zieren den spindeldürren Körper. Lindenberg nimmt auffällig häufig die Sonnenbrille ab, zahlreiche Danksagungen ans Publikum, Küsse für die Beseelten in der ersten Reihe, Knutschen mit Frauen und Männern. Das ewige Band, das nie zerreißt. Mit der jüngeren Generation, mit Clueso wird „Cello“ gespielt, mit Otto Waalkes gibt es den AC/DC-Klassiker „Highway to hell“ fröhlich eingedeutscht: „Auf dem Heimweg wird’s hell“. Axel Prahl, Helge Schneider, Josephin Busch, Carl Carlton, Till Brönner, Stefanie Heinzmann, Gentleman, Carola Kretschmer, Daniel Wirtz. Alle sind sie dabei, Udopia wächst und wächst: „So eine geile Panikfamilie. Yeah!“ Dann, mittendrin, klare Haltungen und der Stinkefinger: „Wir müssen doch Power machen gegen Rechtsradikalismus, gegen das Nationalgedröhne der Ewiggestrigen.
Brexit ist die falsche Richtung. Ey, wir brauchen ein buntes, tolerantes, weltoffenes Europa. Und solange wir als Staatengemeinschaft in Europa nicht solidarisch an den Start kommen und gemeinsam die Flüchtlingskrise bewältigen, ist das immer nur Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten! Die Sprüche, die dieser Gauleiter, oder wie heißt der Vogel, absondert, sind ja unerträglich. Aber das Gute daran ist, er hat die Maske der AfD runtergezogen, sodass die hässliche Fratze des Rassismus für alle ganz klar zu erkennen ist! Und Angie eiert rum mit der Türkei, mit diesem Versuchssultan Erdowahn, der sein Land ins Mittelalter zurückregieren will. Sehr wackliger Deal. Leute, es wird wieder Zeit für echte Toleranz, Solidarität und politische Power. Oder muss jetzt wirklich die Panikpartei kommen? Für eine bunte Republik Deutschland. Yeah!“ Tosender Applaus. Von der Droge Udopio eingenommen, glaubt man kurzzeitig, dass wirklich die Panikpartei an den Start muss. Gänsehautmomente.
Lindenberg mit Anarcho-DNA
Lindenberg fragt immer noch, wozu Kriege da sind. Kinder halten sich an den Händen, auf der Videoleinwand sieht man krasse Bilder, das zerfetzte Gegenteil. Und wieder klare Ansagen: „Ey, und den Schampus säuft die Waffenindustrie, Deutschland steht da an dritter Stelle.“ Lange Gitarrenriffs, beim Song „Sternenreise“ sorgen Handylichter für großflächige Romantik. Sternchenaugen, Küsse, Menschen liegen sich in den Armen, Lindenberg nuschelt: „Unser höchstes, heiliges Gut ist die Freundschaft. Yeah!“ Beim Song „Plan B“, zu finden auf dem aktuellen Album „Stärker als die Zeit“, rauschen seine Kinder- und Jugendbilder über die Leinwand. Ja, alle staunen über diese Anarcho-DNA.
Ein Konzert von Lindenberg ist für die Älteren, die nun ihre Kinder mitbringen, eine biografische Zeitreise. Der Sonderzug nach Pankow, die Lederjacke für Honecker. Scheinwerfer sorgen für Rotlichttupfer im Publikum, Lindenberg fällt auf die Knie, das ganze Stadion gibt den Chor für jenen Horizont, hinter dem es immer weiter geht. Aliens tanzen, die ganze Bühne wird zur „Honky Tonky Show“. Lindenberg bedankt sich bei der „geilen Panikfamilie im heißen Osten“, sein „Eldorado“ hat er in den Augen des Publikums gefunden. Grenzenlose Liebe, brandender Applaus, die Füße müssen weiter, die Herzen bleiben bei der Panikfamilie. Lindenberg schwört: „Wir sehen uns ganz bald wieder.“ Dann lässt er das Mikro fallen und schlüpft ins Astronautenkostüm. Ein Feuerwerk und ein Raketenstart. Alles rausgehauen, alle beglückt, alle vollgepumpt mit Udopio: Regnen wird es bis tief in die Nacht nicht mehr. (mz)