Rammstein-Frontmann in Leipzig Rammstein-Frontmann in Leipzig: Till Lindemann spielt mit Macht, Sex und Gewalt

Leipzig - Till Lindemann liebt die Provokation. Er spielt mit Tabus, gern auch mit sexuellen. Das ist sein Geschäft, der 57-jährige Frontmann der weltweit erfolgreichen Rockband Rammstein lebt nicht schlecht davon. Jetzt ist er in Leipzig solo aufgetreten. Aber vor seiner Show waren zunächst andere auf der Bühne unterwegs.
„Ich hab’ mein Herz verlor’n / An deine Uniform / Zieh sie nicht aus, lass sie an / Sei ein Mann“. Kaum hat man sich am Freitagabend gegen 20 Uhr im rappelvollen Leipziger Haus Auensee einen Stehplatz erdrängelt, der eine minimale Sicht auf die Bühne ermöglicht, erklärt die „Military Dream Pop“-Sängerin Jadu im schwarzen Latex-Anzug ihre Vorlieben. Viele der bald wild den Kopf schüttelnden, also headbangenden, Männer dürften bei Jadu kaum Chancen haben, denn in den Reihen überwiegen Rammstein-T-Shirts mit solcherlei Botschaften: „Manche führen, manche folgen“.
Nach Jadu folgt ein swingendes Liedchen über den Massenmörder Fritz Haarmann, der 1924 zum Tode verurteilt wurde: „Warte nur ein Weilchen / Bald kommt Haarmann auch zu dir / Mit dem kleinen Hackebeilchen / Macht er Hackefleisch aus dir“. Vorspiele können so schön sein. Anschließend darf man sich die bis 21.45 Uhr andauernde Wartezeit noch mit der US-amerikanischen Band „Aesthetic Perfection“ vertreiben. Da gibt es eine Mischung aus Depeche Mode, Metal und Techno. Faszinierend sind die knurrenden Schreie und der Kehlgesang des Sängers Daniel Graves, dessen weiß gepudertes Gesicht den Batman-Joker aus dem DC Comic-Verlag herzlich grüßen lässt.
Till Lindemann als Triumphator im Haus Auensee
So unterhaltend die Ouvertüre ist, der Hauptakt muss jetzt folgen. Rammstein-Sänger Till Lindemann und der schwedische Multiinstrumentalist Peter Tägtgren eröffnen mit der krachenden Drogenhymne „Skills In Pills“, die - immer abhängig vom jeweiligen Blick - vor Rauschmitteln warnt oder sie eben verherrlicht. Lindemann scheint frisch aus der Backstube zu kommen, von unten bis oben ist er weiß gekleidet, Haupthaar inklusive.
Schön, wie die Zöpfe der Musiker, die in Pippi Langstrumpf-Art gebunden sind, zum brachial-martialischen Rock-Metal mit Synthesizer-Spielereien wackeln. Lindemann, Jahrgang 1963, gibt mit seinen unrunden, bewusst tapsigen und teils abgehackten Bewegungen einen theatralen Tanzbären, der irgendwo zwischen unkontrollierter Lust, diversen Obsessionen und vielfältigen Depressionen zu begeistern weiß. Lindemann als Triumphator, der die ausgebreiteten Arme von unten nach oben bewegt und mit geöffneten Händen den Applaus des Publikums steuert.
Es scheint, als liege die Seele des Fan-Volkes zwischen seinen Fingern. Weniger das Laserstrahlengewitter, sondern vielmehr die obszönen Videos sind der Grund, warum für dieses Konzert ausschließlich volljährige Personen zugelassen sind.
Auf der Leinwand rechnen pulsierende Leiber mit Schönheitsidealen ab, da flattern gepiercte Schamlippen und großflächig gezeigte Vaginas durchs Rund. Ob das in Zeiten, in denen kostenfreie Porno-Seiten einen Mausklick entfernt sind, noch als Tabubruch bezeichnet werden kann? Songs wie „Frau und Mann“, zu finden auf dem aktuellen Lindemann-Tägtgren-Album „F & M“, zeigen exemplarisch, dass trotz kommerziellen Erfolgs die Chancen auf einen Literaturnobelpreis wohl eher gering sind: „Ai-ai-ai / Hässlich oder schön / Im Liegen oder Stehen / Ai-ai-ai / Frau oder Mann / Gegensätze ziehen sich an.“
Mischung aus Metal und Neuer Deutscher Härte
Lindemanns prägnant harte Stimme lässt bei Identitätssongs wie „Ich weiß es nicht“ das „R“ rollen. Beim Lied „Allesfresser“ wird der Berufsprovokateur auf der Leinwand inmitten einer wilden Fressorgie zum Lollipop-Mädchen, derweil fliegen Torten ins Publikum. Ein Kindergeburtstag für Fortgeschrittene.
Mit Country-Gitarrenstil feiert der Song „Knebel“ eine Komplexreduktion, die mit Oralsex-Szenen garniert wird: „Das Leben ist einfach, einfach zu schwer / Es wäre so einfach, wenn es einfacher wär / Ist alles Bestimmung, hat alles seinen Grund / Und du bist ganz still, hast einen Knebel in dem Mund“.
Stilistisch sorgt die sich wiederholende Mischung aus Metal und Neuer Deutscher Härte für einen atmosphärischen Trance-Zustand, der immer wieder mit kulturellen Verweisen aufgelockert wird. So sieht man während des Songs „Cowboy“ sowohl triebgesteuerte Peitschenhiebe auf Frauen als auch einen Kinderwackel-Elefanten, der den Mythos des einsamen Reiters gehörig persifliert. Da eine blutrote Bühnenbeleuchtung, hier ein Plädoyer für Abtreibungen, dort ein sadistischer Einspieler, in dem einer nackten Frau genau dann Schläge verabreicht werden, wenn sie beim Lernen von deutschen Wörtern Fehler macht.
Auch Selbstironie ist zu finden, während des Songs „Platz Eins“ trudelt Lindemann in einer riesigen Plastikblase über die Köpfe des Publikum. Beherrscht man das Spiel mit der deutschen Erregung, kann man schon mal abgeschottet in seiner eigenen Blase leben. Die Berührungspunkte gibt es mit den Fans, die dann auch die toten Fische, die es zum Song „Fish On“ von der Bühne hagelt, freudig zurückwerfen.
Wer will, kann sich von diesem inszenierten Spiel um Macht, Sex und Gewalt provozieren lassen. Die Fans jedenfalls gehen nach gut 80 Minuten Show glücklich nach Hause. (mz)