Lebensweg Lebensweg: Das Wunder von Wittenberg
Wittenberg/MZ. - Paul Alexander ist schwer beschäftigt an diesem Sonnabendnachmittag. Jedes Mal, wenn sich die Glastür am Torhaus in der Piesteritzer Werkssiedlung in Wittenberg öffnet und weitere Gäste hereinströmen, stellt sich der Zehnjährige sofort neben sie, er soll ihnen schließlich den Weg weisen. Doch bevor er sie in die obere Etage an die lange Kaffeetafel geleitet, wartet er geduldig, bis sie seinem Großvater gratuliert haben.
Manche überreichen selbst gebastelte Lebensbäumchen. Andere sagen Sätze wie: "Alles Gute zum ersten Geburtstag", was reichlich komisch klingt, schließlich ist Winfried Huth immerhin schon 66 Jahre alt. Dass er sich dennoch wie neu geboren fühlt, hat mit einem Unfall zu tun, der sich auf den Tag genau vor einem Jahr ereignete, der Familie und Nachbarn in Schrecken versetzte und in den Medien für Aufsehen sorgte.
Griff ins Leere
Es ist der 3. September 2004. Mit seiner Frau ist Huth, pensionierter Chemie-Ingenieur, in den Garten ins nahe gelegene Braunsdorf gefahren. Sie hat Kuchen gebacken. Man will Kaffee trinken und den Spätsommertag genießen. Da beschließt Huth, noch rasch ein paar Äste aus einem Kirschbaum zu schneiden. Er schnappt sich die Kettensäge, erklimmt die Leiter. Was ihn für Sekunden aus dem Gleichgewicht bringt, vermag er heute nicht mehr zu sagen. Als er versucht, sich an einer Sprosse festzuhalten, greift er ins Leere - und stürzt gut zwei Meter in die Tiefe. Dort liegt er dann, in einem Johannisbeerstrauch. An seiner Wange fühlt er kalten Stahl. Er blickt an sich hinunter. Auch da ist Stahl. Ein Zweizollrohr, es diente dem Beerenstrauch als Stütze, hat seinen Oberkörper von der rechten Hüfte bis zur linken Schulter durchbohrt. Winfried Huth denkt sich: "Ruhe bewahren." Was danach geschieht, wird wenig später auch in der MZ als das "Wunder von Wittenberg" bezeichnet. Am Sonnabend erinnert Huth an diese Formulierung. Er schaut in die Runde, in der einige seiner Retter Platz genommen haben, und rückt den Satz ins richtige Licht: "Ich hatte Glück. Das Wunder von Wittenberg haben Sie vollbracht."
Nachdem Huths Frau die Nachbarn alarmiert hat, telefoniert einer von ihnen Hilfe herbei. Als erste treffen die Johanniter ein. Sie finden Winfried Huth, hellwach, gestützt vom Gartennachbarn Jürgen Schauer. Der ist ein Kerl wie ein Baum. Eine Stunde, erinnert er sich, hat er Huth gehalten. So lange dauert es, bis Feuerwehr und Notarzt den Verunglückten transportfähig gemacht haben. Es müssen erst die Enden des Stahlrohrs abgesägt werden, damit er im Rettungshubschrauber stabil gelagert werden kann. Er wird in die Universitätsklinik nach Magdeburg geflogen. Auch dort spricht der Chirurg Hans Lippert rasch von einem Wunder, dem Wunder, "dass der Mann nicht auf der Stelle tot war". Er lobt die Wittenberger: "Wäre die Stange auch nur bewegt worden, hätte dies weitere schwere innere Verletzungen zur Folge gehabt und der Verunglückte wäre verblutet. Das war eine perfekt funktionierende Rettungskette."
Glück im Unglück
In den Abendstunden beginnt in Magdeburg die Operation. Fünf Stunden wird sie dauern. Das Rohr war an Leber und Herz vorbeigeschrammt, hatte Hauptschlagader und Speiseröhre knapp verfehlt, aber die Bauchspeicheldrüse und die Lunge durchbohrt. Hinzu kamen Rippenbrüche. Es folgen Tage im künstlichen Koma ("Ich hatte die sonderbarsten Träume", sagt Huth) und schließlich eine Kur, die ihn wiederherstellen soll. Bereits im November unternimmt der Rekonvaleszent die erste Dankestour zu den Johannitern und den Männern der Berufsfeuerwehr. Damals erzählt er der MZ, es gehe ihm gut, nur den linken Arm könne er noch nicht wieder richtig bewegen. Nun, reichlich zehn Monate später, wird deutlich, dass der Arm nach wie vor nicht richtig intakt ist.
Huth spricht am Rande von Schmerzen, die er nur mit Medikamenten aushält. Aber eigentlich redet er darüber nicht gern, schon gar nicht seiner Familie gegenüber. Auch die hat sich an der Tafel eingefunden. Ehefrau Margitta antwortet auf die Frage, ob der Unfall ihren Mann verändert hat: "Nein, er schont sich auch heute nicht." Paul Alexander, eigens aus Berlin angereist, findet, dass sein Großvater ganz der Alte ist. Und dann schauen sich alle eine Bilddokumentation an. Es ist eine Mischung aus Originalaufnahmen und nachgestellten Szenen. Sie zeigen Winfried Huth, aus dessen Hals ein Stahlrohr ragt. Der überlebt hat. Und nun danke sagt.