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Geschichte Über 450 Jahre alte Gräber in Kemberg ausgehoben

Archäologen berichten von den Funden an der alten Knabenschule. Hier ist die ärmere Bevölkerung bestattet worden.

Von Karina Blüthgen 30.11.2021, 09:06
An der Knabenschule in Kemberg wird gebaut.
An der Knabenschule in Kemberg wird gebaut. Foto: Karina Blüthgen

Kemberg/MZ - „Es gibt nur eine Person, die wahrscheinlich in Ruhe gestorben ist. Alle anderen sind an Krankheiten gestorben. Es war eine gebeutelte Bevölkerung“, sagt Ulf Petzschmann. Ein trauriges Los, das einige jener Kemberger hatten, die vor 450 bis 650 Jahren in der Stadt lebten und bestattet wurden. Es war vermutlich die ärmere Bevölkerung, die hier südöstlich der Kirche St. Marien, am weitesten entfernt vom Altar, ihre Ruhe fand.

Petzschmann, seit 1995 Archäologe, hat im Frühjahr als Grabungsleiter in Kemberg gearbeitet. Im Vorfeld der umfangreichen Arbeiten an der früheren Knabenschule der Stadt in der Wittenberger Straße hatten im März und April 2021 archäologische Grabungen auf einem 25 Quadratmeter kleinen Areal stattgefunden. Das Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt untersuchte in Zusammenarbeit mit dem Anhaltischen Förderverein für Naturkunde und Geschichte ein Stück des früheren Friedhofs um die Kemberger Kirche und fand durchaus Ungewöhnliches.

57 Gräber ausgehoben

In einem öffentlichen Vortrag in Kemberg, angeregt durch den Kemberger Kultur- und Kunstverein, hat Ulf Petzschmann jüngst die Funde vorgestellt. 57 Bestattungen wurden gezählt, davon 32 vollständig. Bei den übrigen waren es nur Körperteile, was zum Teil allerdings auch an dem kleinen Grabungsfeld gelegen hat, wodurch nicht alle Bestattungen komplett freigelegt wurden. Drei Doppelbestattungen und eine Dreifachbestattung wurden verzeichnet. Zudem wurden 854 Fundstücke (ohne Knochen) gezählt, in der überwiegenden Zahl spätmittelalterliche Keramik, dazu unter anderem einige Tonpfeifen.

Fundstücke aus der Grabung an der Knabenschule: Tonpfeifen
Fundstücke aus der Grabung an der Knabenschule: Tonpfeifen
Foto: Karina Blüthgen

„Bei einer heutigen Geländeoberkante von 71 Meter (über Null) haben wir die jüngste Bestattung in etwa 75 Zentimeter Tiefe entdeckt“, zeigt Petzschmann ein Diagramm. Die tiefste wurde bei 64 Meter, also sieben Meter unter der Oberfläche gefunden. Allerdings sei die Tiefe kein Maß für das Alter, so der Experte. Zum Teil habe man damals frühere Gräber einfach ignoriert, um die nächste Beisetzung durchzuführen. Nicht alle Bestattungen seien daher datierbar, „es fehlen die Beifunde“, sagt der Grabungsleiter.

Die Unterschiede der Bestattungsformen seien „marginal“. Alle Personen liegen in Ost-West-Richtung, alle sind sogenannte Rückenstrecker. „Es gibt Beisetzungen mit gestreckten Ober- und Unterarmen, das scheint die ursprüngliche, älteste Bestattung gewesen zu sein“, erläutert Petzschmann die Fotos der Funde. Zudem zeigten sich extreme Abwinklungen der Unterarme, auch parallele Unterarme oder auch gekreuzte Arme, letzteres bei der ältesten unteren Bestattung. Schwarze Linien deuten noch an, wo ein Sarg gewesen war. Insgesamt 79 Nägel wurden geborgen.

Auf dem Areal wurde die ärmere Bevölkerung zur letzten Ruhe gebettet.
Auf dem Areal wurde die ärmere Bevölkerung zur letzten Ruhe gebettet.
Foto: Karina Blütgen

Die vollständigen Bestattungen waren zu einer Anthropologin gebracht und dort untersucht worden. Abszesse im Kiefer, Schädelverletzungen durch Hiebe, Wundinfektionen, Zahnausfall bei Erwachsenen sowie Mangelerscheinungen bei Kindern wurden bilanziert. Fünf Männer hatten entzündete Beine und Füße. Das könnte auf Arbeit in Ziegeleien (mit feuchtem Ton) oder in Gerbereien hindeuten, so die Mutmaßungen der Zuhörer. In vier Fällen gab es Lepraverdacht.

Wie wurden Reiche gebettet?

„Ein Vergleich wäre interessant, wenn am Ostchor gegraben würde“, meint Günter Böhme, Betreuer des Stadtarchivs. Dort hat die wohlhabendere Bevölkerung Kembergs ihre Ruhestätte gefunden. Der Friedhof wurde 1560 aufgegeben, dann die Knabenschule gebaut. Mit neuen Methoden zur Kohlenstoff- und Spurenelementen-Untersuchung könnten die Gebeine noch viele Informationen preisgeben. (mz)