Eine Schule ohne Lehrer Eine Schule ohne Lehrer: Ministerium greift zu ungewöhnlichen Maßnahmen

Dabrun - Der Pausenhof ist still, die Schüler sind in ihren Klassen. Alles sieht nach einem ganz normalen Schulalltag aus. Ein Blick auf das Schwarze Brett hinter der Eingangstür in der Grundschule Dabrun (Landkreis Wittenberg) aber verrät, dass es anders ist.
Dort hängt eine Schülerzeitung, handgeschrieben, handbemalt. In Füllfederschreibschrift haben drei Kinder auf den ersten Seiten getitelt: „Lehrer fehlen“. Ein Kind fordert: „Das kann so nicht weitergehen.“ Ein anderes ruft arbeitslose Pädagogen auf: „Bitte meldet euch“. Die Texte stammen von Viertklässlern.
Die Lehrer, die die Zeitung mit den Kindern erarbeitet haben, sind derzeit alle krank: Drei Pädagogen, die vier Schulklassen in Dabrun unterrichten. An der Grundschule im 600-Einwohner-Ortsteil der Kleinstadt Kemberg fand in der vergangenen Woche zwei Tage lang überhaupt kein Unterricht statt. Stattdessen gab es für die Mädchen und Jungen Betreuung. Ein Einzelfall?
In Dabrun hofft man auf normale Verhältnisse
Ja, heißt es von den Behörden. Bildungsministerium und Schulamt erklären auf MZ-Anfrage: Es handele sich hier um eine Verkettung unglücklicher Umstände, weil so viele Lehrer an einer so kleinen Schule zeitgleich erkrankt seien. „Kleine Systeme sind leider auch störanfälliger als größere“, sagt Ministeriumssprecher Michael Schulz. Und Reserven gebe es nicht.
Sachsen-Anhalt halte keinen Pool an Lehrern vor, der im Notfall einspringen könne. Vielmehr folge man dem Prinzip, dass kurzzeitig erkrankte Lehrer an der Schule aus eigener Kraft ersetzt werden. Sprich: Klassenzusammenlegung und Gruppenarbeit. Das Provisorium in Dabrun aber wird noch einige Tage Bestand haben. Spätestens nach den Winterferien, ab dem 18. Februar, hoffe man wieder auf normale Verhältnisse, heißt es aus dem Ministerium. Bis dahin laufe Behelfsunterricht.
Gruppenarbeit und Zusammenlegung ließen sich in Dabrun ohnehin nicht machen. Es ist kein Lehrer mehr da. Und: Zusammengelegte Klassen gehören hier schon seit längerer Zeit zum Alltag. Drei Lehrer betreuen 72 Schüler in vier Klassen. Die zweite Klasse ist schon seit Sommer aufgeteilt, die Schüler lernen in den Klassen drei und vier mit. Das erinnert an die Dorfschule zu Großmutters Zeiten. Zwischendurch kommen Lehrer, die stundenweise abgeordnet sind: Dienstag Religion, Mittwoch Förderschule, Freitag Ethik. „Das ist wie auf dem Verschiebebahnhof“, raunt eine Pädagogin.
Jahrgangsübergreifender Unterricht für manche „eine große Katastrophe“
Das Kultusministerium versucht das zu erklären. Kleine Schulen wie die in Dabrun seien politisch gewollt, sagt Sprecher Michael Schulz. Jahrgangsübergreifender Unterricht sei da an vielen Standorten gang und gebe. Während sich anderenorts einige Eltern gut damit arrangieren könnten, sei es für manche „eine große Katastrophe“. Dabei entspreche das Schüler-Lehrer-Verhältnis den Bestimmungen. Die Dabruner Eltern sehen das anders. In einem Klassenraum mussten vor Monaten Schränke abgebaut werden, damit auch die zusätzlichen Kinder der zweiten Klasse mit in den Raum passen.
Die Kommune schickte in den ersten Tagen nach dem Ausfall der Lehrerinnen zwei Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung, eine Sozialarbeiterin aus einer benachbarten Schule sprang mit ein. Statt Mathe, Deutsch und Sachkunde steht Beschäftigung auf dem Stundenplan. An einem Tag übernahmen sogar Schüler vom Wittenberger Melanchthon-Gymnasium den Unterricht für die Grundschüler.
Eine Woche nach dem Ausfall der drei Stammlehrer ist das Lehrerzimmer in Dabrun ein unsteter Ort. Sie sehe hier kaum zwei Mal das gleiche Gesicht, sagt eine Pädagogin im Lehrerzimmer und blickt in die Runde. Kein Wunder, denn das Schulamt greift zu ungewöhnlichen Methoden: Es hat alle Schulen im Kreis angeschrieben, jeder Standort entsendet tageweise Kollegen, um den Schulbetrieb zu gewährleisten.
Doch funktioniert das? „Unterricht machen wir hier nicht“, meint eine andere. Sie sei keine Grundschullehrerin - das könne sie gar nicht leisten. „Betreuung, das sei alles, was wir hier anbieten können.“ Und das auch nur „von Tag zu Tag.“ Zumindest Zeugnisse solle es jetzt geben, die hätten die ausgefallenen Kollegen noch vor ihrer Krankheit fertig geschrieben.
Eltern zwischen Dankbarkeit und Wut
Von den Eltern ist einerseits Dankbarkeit dafür zu hören, dass überhaupt eine Art Schulbetrieb stattfindet, andererseits richtet sich deren Wut gegen Schulamt und Ministerium. Die hätten für Notfälle wie diesen keine Vorkehrungen getroffen, sagt Juliane Gucinski. Sie schickt ihre Tochter inzwischen zur Nachhilfe, um den verpassten Stoff aufzuholen.
Dabei sei im alten Schuljahr noch alles in Ordnung gewesen. Es gab Geld für den modernen Schulalltag, mit Fördermitteln wurden unter anderem Whiteboards angeschafft, das Computerkabinett aufgemöbelt und WLAN eingerichtet. Über eine Drittelmillion Euro wurden dafür ausgegeben. Direkt neben dem Schulgebäude wird gebaut - hier entsteht eine neue Kindertagesstätte. „Schule mit Sporthalle, die Kita direkt daneben. Auch die Feuerwehr ist nicht weit weg; das ist doch ein perfektes Ensemble“, meint Kembergs Bürgermeister Torsten Seelig (CDU).
Seelig, ein hemdsärmeliger Typ, mit wachen Augen, sitzt an seinem Schreibtisch im Rathaus von Kemberg, wenige Autominuten von Dabrun entfernt. Mit dem Unterrichtsausfall hat er eigentlich nur wenig zu tun - nur das Schulgebäude liegt in seinem Verantwortungsbereich, die Lehrerstellen gehören nicht dazu. Trotzdem will er das Image seines Ortes nicht angekratzt wissen und setzt auf öffentlichen Druck. Und die Aufmerksamkeit ist der Schule ohne Lehrer inzwischen bundesweit sicher. Die lokalen Medien berichteten, dann kamen das ZDF und Privatsender, auch in den Kinderkanal schaffte es Dabrun.
Öffentlicher Druck wirkt
Langsam scheint der öffentliche Druck zu wirken. Bürgermeister Seelig hat eben noch mit einem Parteikollegen telefoniert. Der habe sich bei Staatssekretärin für Bildung, Eva Feußner, für seine Schule eingesetzt. Jetzt solle es entgegen aller früheren Aussagen doch vier Lehrer in Dabrun geben. Für jede Klasse einen. „Da nehm’ ich die jetzt auch beim Wort.“ Seelig will die Landesregierung auf die Aussage festnageln. Doch ob es so kommt? Auf Anfrage jedenfalls bestätigte das Ministerium die vierte Lehrerstelle noch nicht.
Eigentlich, meint Seelig, hätte er lieber fünf Lehrer. Entgegen aller Prognosen gibt es mehr Kinder in Kemberg und Dabrun, als noch vor Jahren errechnet. Dieses Problem betrifft das ganze Land - obwohl die Gesamtbevölkerung schrumpft, gibt es mehr Schüler, während viele Lehrer in den Ruhestand wechseln.
Und in Dabrun tun sich bald neue Lücken auf: Die jüngste Lehrerin dort wird bald 59 Jahre alt, die älteste geht zum neuen Schuljahr im Sommer in den Ruhestand. Die Eltern sehen da das nächste Problem. Im ländlichen Raum finden sich gerade für Grundschulen kaum neue Lehrkräfte. Schulamt und Ministerium versprechen, im Februar mit der Ausschreibung für die freiwerdende Stelle zu beginnen. Erfahrungen hätten aber gezeigt, dass es oft kaum Bewerber gebe. Die Eltern in Dabrun wiederum hoffen nun zunächst einmal, dass die kranken Lehrer nach den Winterferien zurückkommen. (mz)

