Aufarbeitung des SED-Unrechts Aufarbeitung des SED-Unrechts: Angst und Panik: Beratung für Opfer

Wittenberg - In etlichen Kommunen in Sachsen-Anhalt finden bis heute Bürgerberatungen für Betroffene von SED-Unrecht statt. Die jüngste Beratung diese Woche in den Räumen der Caritas in Wittenberg war erneut ausgebucht. Die MZ wollte von der Landesbeauftragten Birgit Neumann-Becker wissen, womit sie und ihre Mitarbeiter es fast 30 Jahre nach dem Untergang der DDR zu tun haben. Die Fragen stellte Corinna Nitz.
dpa
Sachsen-Anhalts Landesbeauftragte Birgit Neumann-Becker
Die Sprechstunden der von Ihnen geleiteten Behörde sind praktisch immer ausgebucht. Warum kommen nach so langer Zeit noch so viele?
Neumann-Becker: Fast immer geht es um die Klärung von Fragen von Biografien, die durch politische Verfolgung oder Einflussnahme belastet sind. Das kann die eigene Biografie oder die von Angehörigen sein. Teilweise fragen nun auch die (Ur)Enkel nach, meist wenn in der Mittelstufe in der Schule das Thema DDR besprochen wird. Wenn das Schicksal von Urgroßeltern bis heute nicht geklärt ist, stellen sich diese Fragen unabhängig vom zeitlichen Abstand. Ein anderer häufiger Anlass: Frauen und Männer, die die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen belasteten Biografie während ihrer Berufstätigkeit weggeschoben haben, kümmern sich dann darum, wenn es konkret um ihre Rentenberechnung geht. Oft geht ja eine politische Verfolgung, mit oder ohne Haft, mit einer Rentenlücke einher.
Mit welchen Problemen kommen die Betroffenen am häufigsten zu Ihnen?
Alle Besucher unserer Angebote suchen nach Informationen. Diese können - und da helfen wir bei den Anträgen - in den Stasi-Unterlagen, also beim Bundesbeauftragten zu finden sein. Vielfach ergibt sich aber aus dem Kontext, dass das Material an anderen Stellen liegt, etwa dem Landesarchiv (betrifft die Volkspolizei), dem Bundesarchiv (Militärarchiv; für die Armeezeit) oder auch den Jugendämtern (Jugendhilfeakten, auch die aus der DDR).
Können Sie immer helfen?
Wir können nicht jedem zu finanziellen Ausgleichsleistungen verhelfen, weil die Rehabilitierungsgesetze diese nur für bestimmte Fallgruppen vorsehen. Aber es ist auch schon wichtig, einen geschützten Raum anzubieten, in dem diese seelisch belastenden Themen angesprochen werden können - oft ist dies im familiären Rahmen gar nicht in ausreichendem Maße möglich. Oft, nicht immer, können wir auch bei der Recherche von fehlenden Akten helfen. Darüber hinaus bieten wir derzeit in Halle überregional zwei Gesprächsgruppen an. Eine für Frauen, die 1978/79 die kontaminierte Anti-D-Prophylaxe erhalten haben, und eine für Betroffene des Zwangsdopings im Leistungssport der DDR.
Birgit Neumann-Becker ist Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der Landtag wählte die Theologin auf Vorschlag der Fraktionen von CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Sie befindet sich in ihren zweiten Amtszeit. Die Wiederwahl war im März 2018. Neumann-Becker ist Ansprechpartnerin für Bewohner von Sachsen-Anhalt, die unter der SED-Diktatur gelitten haben und durch Wirkungen des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit benachteiligt worden sind. Über die Opfer erklärt sie gegenüber der MZ, viele ehemals politisch Verfolgte übernehmen als Zeitzeugen Verantwortung. Zum Beispiel berichten sie in Schulklassen über ihre Erfahrungen in der kommunistischen Diktatur. Sie „möchten damit eine Begeisterung für Demokratie und Teilhabe erreichen. Besonders eindrücklich sind dabei die Schilderungen von Menschen, die als Jugendliche in Opposition gegangen sind und dafür Repressalien in Kauf genommen haben“, so Neumann-Becker.
Die Beratungen in Wittenberg finden bei der Caritas statt. Dort heißt es, 2018 sei bereits ausgebucht.
Gibt es aus Ihrer Sicht noch Defizite in der Aufarbeitung? Anders gefragt: Gibt es Menschen, die nachweislich SED-Unrecht erlitten haben, aber trotzdem durchs Raster fallen?
Der aktuelle Beschluss des Bundesrates vom 19. Oktober 2018, bei dem auch die Bundesratsmitglieder aus Sachsen-Anhalt, allen voran der Ministerpräsident zugestimmt haben, benennt zumindest die „verfolgten Schüler“, Opfer von „Zersetzungsmaßnahmen“, Opfer der Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze und Betroffene von Traumafolgestörungen, bei denen aktuell keine oder zu geringe Folgeleistungen vorgesehen sind. Es gibt darüber hinaus Unrechtstatbestände, die gesetzlich nicht zu fassen sind, wie zum Beispiel aus politischen Gründen unterbliebene Beförderungen - diese hat der Gesetzgeber aus dem beruflichen Rehabilitierungsgesetz wegen der fehlenden Nachweisbarkeit bewusst ausgespart.
Sie beraten auch Angehörige von offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit. Wer meldet sich da und womit kann dieser Personenkreis rechnen?
Dies gehört dazu, es bleiben aber Ausnahmefälle. Teilweise wollen nachgeborene Angehörige die Rolle der Familienangehörigen einordnen können und suchen Aufklärung. Teilweise geht es auch hier um die Schicksalsklärung, denn die Angehörigen von SED und MfS gingen mit (vermeintlichen) Abweichlern hart ins Gericht.
Gibt es beim Beratungsbedarf lokale Unterschiede? Also, sind in bestimmten Gebieten Menschen stärker von SED-Unrecht betroffen?
Die Nachfragen, auch wenn man die Themen ansieht, sind über das Land gleichmäßig verteilt. Oft hat das Unrecht in einer frühen Lebensphase stattgefunden, und die Betroffenen sind von dort weggezogen, so dass geografische Besonderheiten, zum Beispiel Wohnort im Sperrgebiet, praktisch nicht ins Gewicht fallen.
Erinnern Sie sich an einen besonders schwerwiegenden Fall, der Ihnen persönlich sehr nah gegangen ist?
Natürlich Unrecht und Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Spezialheimen, Jugendhaftanstalten oder weil die Eltern politisch verfolgt wurden. Ich erinnere mich besonders an Berichte von Angst und Panik in den Nächten, wenn die Jugendlichen eingeschlossen sich selbst überlassen waren. Im Jugendhaus wurde von „Blutecken“ berichtet, in denen enthemmt körperliche Gewalt ausgeübt wurde. Aber auch Berichte von Zwangsarbeit im Strafvollzug, wenn ein Pianist nach einer politischen Verurteilung beim Gleisbau arbeiten muss. Ein anderer Mann musste ohne Anlernzeit unter Tage im Kupferbergbau arbeiten. Junge Häftlinge wurden bei der Zwangsarbeit schwer mit Quecksilber kontaminiert. Die Gesundheitsschäden sind gravierend und erheblich lebensverkürzend. Ein weiterer „Fall“: Ein Jugendlicher, der 1946 im Alter von 16 Jahren mit dem Vorwurf, ein Angehöriger der Werwölfe gewesen zu sein, in das sowjetische Speziallager in Mühlberg interniert und später für fünf Jahre nach Sibirien zur Zwangsarbeit deportiert wurde. Er hat viele seiner Kameraden dort sterben sehen und sich verpflichtet, darüber zu berichten. Er wurde in diesem Jahr 90 Jahre alt und erfüllt diesen Auftrag bis heute.
Und um noch einmal auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Wenn bis heute Opfer zu Ihnen kommen, wirft das ja auch ein Licht auf die Ausmaße des Unrechts durch das SED-Regime. Wie wird eigentlich mit den Tätern verfahren?
Es wirft vor allem auch ein Licht auf die Dauer der politischen Verfolgung von 1945 bis 1989, deren Anlässe sich änderten und deren Methoden variierten. Zu den Tätern: Die strafrechtliche Aufarbeitung ist auf Grund der Verjährung, die ja am 3. Oktober 1990 neu begann, abgeschlossen. Die Höhe der Renten früherer Funktionsträger und der Angehörigen des MfS sind - nach Beschlüssen der ersten frei gewählten Volkskammer gedeckelt - in die gesetzliche Rentenversicherung überführt worden. Es gab Prozesse gegen Mitglieder des Politbüros, gegen Mauerschützen und gegen einige wenige besonders brutal agierende Gefängniswärter. Dabei war es wichtig, Rechtsstaatlichkeit einzuhalten. Noch ist es möglich zumindest in eng begrenztem Rahmen eine Überprüfung auf Mitarbeit beim MfS zu beantragen. Dies ist auch bei frei gewählten Abgeordneten möglich, so dass Transparenz hinsichtlich der politischen Biografie in Teilen möglich ist. Im Grunde aber ist es so, dass nur sehr wenige Personen politische Verantwortung übernommen haben oder Reue zeigen. Dies wird immer wieder von Vertretern der Opferverbände angesprochen.
(mz)
