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Kollegen angezeigt Volkswagen: Kollegen angezeigt - VW-Mitarbeiter deckt Betrug auf und erhält Morddrohung

Von Ingo Kugenbuch und Petra Korn 20.01.2018, 12:00
Ein VW-Mitarbeiter hat Morddrohungen erhalten, nachdem er seine Kollegen angezeigt hat.
Ein VW-Mitarbeiter hat Morddrohungen erhalten, nachdem er seine Kollegen angezeigt hat. dpa

Blankenburg/Braunschweig - Es sollte ein Männerwochenende werden, Bier trinken, Fußball gucken, quatschen. Doch das Treffen im Frühjahr 2015 findet in einem Bungalow in Blankenburg (Harz) für zwei Arbeitskollegen ein jähes Ende: Im Wintergarten des Gebäudes kommt es in der Nacht zum 12. April um kurz nach 1 Uhr zu einem Brand, eine Gasheizung explodiert.

„Die Stichflamme war sechs Meter hoch“, erinnert sich Peter Schumann (Name geändert). Sein Kollege wird leicht verletzt, Schumann rettet sich unversehrt in Unterhose und T-Shirt ins Freie. Das Ganze war kein Unfall, glaubt der Mittvierziger heute, sondern eine „versuchte Tötung“. Laut Staatsanwaltschaft Halberstadt gibt es dafür allerdings keinen Hinweis: Nach dem Brand sei ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, sagt Hauke Roggenbuck, Leiter der Behörde.

Letztlich habe alles auf einen technischen Defekt des Heizgerätes hingedeutet. „Es hat sich keinerlei Anhaltspunkt dafür ergeben, dass der Brand fahrlässig oder vorsätzlich verursacht worden sein könnte“, so Roggenbuck.

Ungeheuerlicher Verdacht gegen Volkswagen-Mitarbeiter

Dass Peter Schumann zu diesem ungeheuerlichen Verdacht kommt, hat allerdings einen Hintergrund: Weil er Betrügereien in seiner Firma ans Licht gebracht hat, trachten ihm Kollegen nach dem Leben, glaubt er. Bei der Volkswagen Financial Services AG in Braunschweig - einer 100-prozentigen VW-Tochter mit weltweit mehr als 11.000 Mitarbeitern - soll es ein Netzwerk aus Kollegen geben, die sich mit Hilfe von Versicherungs-Scheinverträgen für nicht existierende Motorräder satte Schadensfreiheitsrabatte ergaunern.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig spricht von 10 bis 20 Stück, Schumann selber rechnet mit mindestens 80, vielleicht Hunderten. Schumann hat die Vorgänge in seiner Firma angezeigt - erst anonym, vor einem Jahr aber ganz offiziell. Als Ergebnis der Anzeige, glaubt er, lag am 23. Dezember ein Brief mit schwarzem Trauerrand im Briefkasten seines Hauses in der Nähe von Braunschweig. Eine Morddrohung.

Peter Schumann arbeitet eigenen Angaben zufolge seit 2001 bei Volkswagen Financial Services. Das Unternehmen organisiert die Finanzdienstleitungen - etwa Versicherungen oder Leasing - des Autoriesen. Anfang 2003 sei er in die Vertragsabteilung gewechselt. „Da begann das Dilemma“, sagt er. Er fühlte sich von einem Vorgesetzten gemobbt.

VW-Mitarbeiter in Betrugssystem mit Scheinverträgen verstrickt?

In dieser Zeit sei ihm auch aufgefallen, dass in seiner Firma offenbar viele Kollegen - und auch sein ungeliebter Chef - in das Betrugssystem mit den Scheinverträgen verstrickt waren. „In unserem Großraumbüro warfen sie sich am Montag dann manchmal scherzhaft Bemerkungen über Motorradausflüge am Wochenende zu“, erinnert sich Schumann. Als er 2004 zum ersten Mal die fingierten Verträge anonym bei der Geschäftsführung und 2005 dann auch dem Versicherungspartner anzeigte, wollte er damit vor allem seinen Vorgesetzten treffen, sagt er.

Die mögliche Betrugsmasche ist einfach und wirkungsvoll. Schumann schildert sie so: Der betreffende Mitarbeiter schließt einen Haftpflichtversicherungsvertrag für ein Motorrad ab, das es nicht gibt. Das kostet seinen Angaben zufolge nur 5 bis 30 Euro im Jahr. Lässt man diese billige Versicherung über mehrere Jahre laufen, kommt ein fetter Schadensfreiheitsrabatt zusammen - der zum Beispiel genutzt werden kann, um die Versicherungskosten für das Auto eines Kindes oder den Zweitwagen zu drücken.

Viel Geld gespart bei Versicherungen gespart

Beispiel: Läuft der Scheinvertrag zehn Jahre, dann ergibt sich daraus für einen Fahranfänger ein weniger als halb so hoher Versicherungsbeitrag für dessen Auto, so Schumann. So würde etwa ein Golf VII mit 20.000 Kilometern Fahrleistung im ersten Versicherungsjahr mit Haftpflicht und Teil- sowie Vollkasko regulär rund 1.300 Euro kosten, mit der erschlichenen Schadensfreiheitsklasse 10 wären es dagegen nur rund 550 Euro.

Nachdem die anonymen Anzeigen - Schumann legte 2008 noch einmal nach - weder Schumanns Chef schadeten noch die faulen Verträge verschwanden, wandte sich der Mann an die Staatsanwaltschaft. Sie nahm Anfang 2017 ihre Ermittlungen gegen Mitarbeiter des Finanzdienstleisters auf.

„Es besteht der Verdacht, dass Schadensfreiheitsrabatte bei Kfz-Versicherungen erschlichen worden sind, das heißt eine Einstufung in eine niedrigere Schadensfreiheitsklasse“, teilt Julia Meyer, die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Braunschweig, auf Nachfrage mit. Der Verdacht richte sich gegen eine „einstellige“ Zahl von Mitarbeitern, die zwischen 2005 und 2012 10 bis 20 dieser Scheinverträge abgeschlossen haben sollen. Die Schadenshöhe werde noch ermittelt, so die Staatsanwältin. Der Schaden könnte, glaubt Schumann, in die Hunderttausende gehen.

„Wir weisen Sie hiermit ausdrücklich an, keine weiteren Verträge ohne zugrundeliegendes Wagnis anzulegen.“

Unterlagen, die der MZ vorliegen, legen nahe, dass nicht nur für Betriebsratsmitglieder, sondern auch für Abteilungsleiter von Volkswagen Financial Services und mindestens ein Mitglied des mittleren Volkswagen-Managements mit Hilfe nicht existierender Motorräder Schadensfreiheitsrabatte illegal erhöht wurden. Einige dieser Verträge wurden offenbar im Zuge interner Ermittlungen im Dezember storniert. Andere laufen wohl noch.

In einem internen Schreiben, das der MZ vorliegt, wendete sich die Geschäftsführung der Volkswagen Versicherungsdienst GmbH (VVD), einer Tochter der VW Financial Services AG, im September 2017 an ihre Mitarbeiter.

Die VVD sei informiert worden, dass sich in ihrem Portfolio Verträge befinden sollen, „denen kein versichertes Wagnis zugrunde liegt. Konkret soll es sich um Verträge für nicht existierende Fahrzeuge handeln“. Weiter heißt es dort: „Wir weisen Sie hiermit ausdrücklich an, keine weiteren Verträge ohne zugrundeliegendes Wagnis (Fahrzeug) anzulegen.“

Offiziell sagt die Firma zu möglichen Scheinverträgen nicht viel. Auf schriftlich eingereichte Fragen der MZ antwortet Unternehmenssprecher Stefan Voges kurz und knapp: „Wir unterstützen die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Braunschweig nach Kräften, wollen und können diesen jedoch nicht vorgreifen.“

„Ich muss jetzt da durch. Ich muss versuchen, das zu klären.“

Die Polizei ermittelt auch wegen der Morddrohung gegen Schumann vom 23. Dezember. Eine Verbindung zwischen dem möglichen Versicherungsbetrug bei VW Financial Services und der Drohung hält die zuständige Inspektion in Gifhorn zwar für „abwegig“, sagt Sprecher Thomas Reuter. Dennoch: Das anonyme Schreiben, in dem sich der Verfasser als der verstorbene Bruder Schumanns ausgibt, „müssen wir ernst nehmen“, so Reuter. Darin heißt es: „Vielleicht kommst du lieber zu mir? Hier kannst du auch weiter lügen.“

Schumann selbst sagt: „Ich muss jetzt da durch. Ich muss versuchen, das zu klären.“

Anzeige bei der Finanzaufsicht

Auch bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) hat Peter Schumann im Juni 2017 eine anonyme Anzeige wegen „Versicherungsbetrugs mittels Scheinverträgen zur Erlangung eines höheren SFR“ erstattet. „SFR“ steht für Schadensfreiheitsrabatt. Im Gegensatz zu den Staatsanwaltschaften gibt die Bafin allerdings gegenüber der Presse keine Auskunft, sagte Sprecher Norbert Pieper der MZ. Die Finanzdienstleistungsaufsicht hat eine Reihe von Strafen im Köcher, die sie gegen Banken oder Finanzdienstleister verhängen kann - diese reichen von schriftlichen Abmahnungen über Bußgelder bis hin zur Abberufung von Geschäftsführungen.

Laut Schumann waren die falschen Verträge häufig daran zu erkennen, dass keine oder nur rudimentäre Kennzeichen oder Fahrgestellnummern der Motorräder angegeben waren. (mz)