"Verführte Elite im Harz" "Verführte Elite im Harz": Buch über Kinder der Nazi-Erziehungsanstalt wird in Ballenstedt vorgestellt

Ballenstedt - Das Publikum im Ballenstedter Schlosstheater schaut am Samstagvormittag auf lachende, gut gelaunte Jungs in Uniform: Filmaufnahmen aus den 1930er Jahren zeigen Schüler der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt in Ballenstedt.
Vor der Errichtung des Neubaus auf dem Großen Ziegenberg diente dazu das Gymnasium. Die Napobi - Nationalpolitische Bildungsanstalt - und später Napola sei der „Prototyp der damaligen Gymnasien“ gewesen, sagt Karl-Heinz Meyer, Vorsitzender des Forums Großer Ziegenberg und Mitautor eines Buches, das im Schlosstheater vorgestellt wird: „Verführte Elite im Harz“.
Gymnasium mit Internat und vormilitärischer Ausbildung
Die Napola sei ein Gymnasium mit Internat und vormilitärischer Ausbildung gewesen, für das eine Aufnahmeprüfung zu absolvieren war. Anders als bei den Adolf-Hitler-Schulen, die parallel arbeiteten, aber für die keine Aufnahmeprüfung nötig war.
Gemeinsam mit Wolfgang Schilling (Herausgeber), Friedhart Knolle und Söhnke Streckel hat Meyer die Geschichte der Napolas in Ballenstedt und Ilfeld näher beleuchtet. Auf 270 Seiten, mit mehr als 700 Fotos, die einen Eindruck vom Alltag in diesen Einrichtungen vermitteln. „Für Nachgeborene ist es schwierig, sich in diese Zeit hineinzuversetzen. Vielleicht gelingt es mit diesem Buch etwas besser“, sagt Wolfgang Schilling.
In der Napola trugen auch die Lehrer Uniform
Für ihn war eine Napola kein normales Gymnasium: „Es war bis aufs letzte durchwirkt, da trugen auch die Lehrer Uniform.“ Für die Arbeit am Buch habe er sechs so genannte „Jungmannen“ interviewt, die ihre Zeit dort „mit dem Abstand von 70 Jahren anders sehen“. Mit der Herausgabe des Buches ginge es nicht um Schuldverteilung, sondern um ein Angebot zur Diskussion über Generationen hinweg.
Nicht nur in der DDR war das Thema ein Tabu. „Im Westen gab es eine genauso verzerrte Geschichtsschreibung“, sagt Friedhart Knolle vom Verein „Spurensuche Harz“. Auch im Westen sei die NS-Zeit ausgeblendet worden; „das hat mich immer gestört“, sagt der Goslarer. „Fakten dürfen nicht von politischen Regimen oder Ignoranz und Unkenntnis besetzt werden. Es darf nicht sein, dass wir voreingenommen an Geschichte herangehen.“
„Auch im Westen gab es verzerrte Geschichtsschreibung“
Bei den Recherchen sei ihm klar geworden, dass es Lücken bei der regionalen Geschichtsaufarbeitung gibt, sagt Schilling, dessen Vater Schüler der Ballenstedter Napola gewesen ist. Durch einen Zufall hatte der Autor davon erfahren:
Als er seinen Vater in der Ballenstedter Lungenklinik besuchte, habe er ihn gefragt, was das eigentlich für ein „großer Klotz“ sei, den er da oben auf dem Berg sehe. Schillings Vater klärte ihn auf; neun, zehn Wochen sei er dabei gewesen und dann freiwillig abgegangen.
Ähnliches berichtet eine Frau im Publikum: Ihr Mann habe gehofft, die Aufnahmeprüfung für diese Schule nicht zu bestehen. „Mutproben“ sahen sich dort schon Zehnjährige ausgesetzt, die aus dem zweiten Stock eines Gebäudes in ein Sprungtuch springen sollten. Drill und Unterordnung wurden geschickt verpackt - beispielsweise mit der Ausbildung im Motorradfahren oder Segelfliegen an den Gegensteinen.
Kinder auf der Sturmbahn und beim Musizieren
Auf der Leinwand im Theater wechseln sich Fotos mit Filmen ab. Das Publikum sieht Kinder auf der Sturmbahn, beim Marschieren - und beim Zeitungslesen. „Die Schüler waren rund um die Uhr beschäftigt. Sie hatten keine Zeit, etwas zu hinterfragen“, sagt Meyer. „Nach dem Krieg haben sie überlegt, in welches Räderwerk sie geraten waren.“
Schilling erzählt von Gesprächen mit Zeitzeugen, die dem Vorwurf, sie hätten sich darüber informieren können, was läuft, so begegneten: Sie hätten den „Völkischen Beobachter“, den „Reichssender“ und Lehrer als Elternersatz gehabt: „Das war unsere Lebenswirklichkeit.“
Die Napola in Ballenstedt war der erste Neubau einer solchen Einrichtung - und erstaunlich schnell errichtet: „Heinz Hitler, der Lieblingsneffe von Adolf Hitler, war in Ballenstedt Schüler. Das erklärt den schnellen Neubau“, sagt Meyer. Der Architekt Curt Hermann Ehrlich hat auch anderswo im Harz Spuren hinterlassen. Meyer zeigt Fotos vom Bismarckturm bei Opperode und von der Kirche in Silberhütte. Der Turm auf dem Großen Ziegenberg sei bei den ursprünglichen Planungen nicht vorgesehen gewesen, er wurde nachträglich errichtet.
Welche Wirkung der Gebäudekomplex auch heute noch hat, davon konnten sich die Käufer des Buches am Samstag bei einer Führung noch selbst ein Bild machen. Die Zeit, in der sich der Große Ziegenberg noch so präsentiert, ist begrenzt: Chinesische Investoren wollen das Gelände zu einem Komplex mit Gesundheits- und Pflegezentrum, Sportschule und Zentrum für Keramikkultur machen. Die Vergangenheit soll dennoch bewahrt bleiben, so Meyer. Die Investoren hätten zugesagt, dass das Wachhaus am Eingang eine Dokumentationsstelle zur Geschichte des Großen Ziegenbergs werden soll.
(mz)