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Uralte Jagdtechnik Uralte Jagdtechnik: Darum kann Hans-Günter Schärf röhren wie ein Hirsch

Von Julius Lukas 12.02.2019, 11:00
Mit einem Ochsenhorn bewaffnet, geht Hans-Günter Schärf in den Wald, um Hirsche anzulocken.
Mit einem Ochsenhorn bewaffnet, geht Hans-Günter Schärf in den Wald, um Hirsche anzulocken. A. Stedtler

St. Andreasberg - Einmal hatte Hans-Günter Schärf einen Hirsch unterschätzt. Es geschah auf einer abgelegenen Straße im Harz. Die Nacht war dunkel, der Himmel sternenklar. „Ich hörte einen Hirsch in 150 Metern Entfernung“, erzählt Schärf. Der 57-Jährige ist neugierig, will das Tier aus nächster Nähe sehen. „Deswegen habe ich mich entschlossen, ihn anzulocken.“ Dazu nutzt der ehemalige Bürgermeister von St. Andreasberg (Niedersachsen) eine jahrhundertealte Technik, die er so gut beherrscht wie niemand sonst im Harz: das Hirschrufen.

Man imitiert dabei das Röhren der Geweihträger während der Brunft - und zieht sie damit an wie der Honig den Bären. Schärf lehnt sich also an einen Baum und fängt an zu rufen. Es ist ein dumpfes Geräusch, von rauer Natur und sehr aggressiv. Noch dazu klingt es etwas unappetitlich, als würde jemand mit voller Inbrunst in ein Megafon rülpsen.

Der animalische Lockruf verfehlt seine Wirkung nicht. „Der Hirsch kam sofort auf mich zugestürmt“, erinnert sich Schärf. „Ich war richtig erschrocken.“ Denn mit der Geschwindigkeit, mit der das Tier auf ihn losgeht, hatte er nicht gerechnet. „Dann merkte ich, warum der Hirsch so stürmisch war: Er hatte noch zwei Damen bei sich und die wollte er natürlich verteidigen.“

Hirschrufer Hans-Günter Schärf  - Aug in Aug mit dem Hirsch

Schnell trennen Schärf nur noch wenige Meter vom wilden Tier, das sich laut schnaubend zum Kampf bereitmacht. „Ich hörte wie er beim Atmen Schleim durch seine Nüstern prustete - so gallig und voller Testosteron war er.“ Für Schärf wird es brenzlig. Denn: Das Duell Mensch gegen Hirsch gewinnt der Mensch nur mit einem Gewehr in der Hand. Und Schärf ist kein Jäger. Er ist Hirschrufer - einer der besten in Deutschland.

Das rülpsende Röhren betreibt der Harzer sogar als Wettkampfsport. Tatsächlich gibt es Wettkämpfe im Nachahmen der Könige des Waldes. Schärf hat bei diesen tönenden Turnieren bereits viele vordere Plätze belegt. 2016 stand er sogar ganz oben auf dem Treppchen und holte den Deutschen Meistertitel. „Meine Fähigkeiten hatte ich bei der nächtlichen Begegnung mit dem Hirsch vielleicht etwas unterschätzt“, sagt er rückblickend.

Als Schärf von seinem Stelldichein mit dem Wildtier erzählt, sitzt er im Büro des Museums Grube Samson in St. Andreasberg. Die Grube gehört zur Oberharzer Wasserwirtschaft, einem Unesco Weltkulturerbe. Hier wurde bis 1910 Silber gefördert. Heute ist das Bergwerk ein Museum. Schärf hat die Anlage seit zwei Jahren gepachtet. „Als Ex-Bürgermeister bin ich schon pensioniert, fühle mich aber noch zu jung für den Ruhestand“, sagt er.

Hirschrufen ist eine uralte Jagdtechnik

Die Grube ist ein Ort, der Tradition atmet. Im Büro hängen Gedenkteller an den Wänden, kleine Bergmannsfiguren sind in einem Regal aufgereiht. Die Möbel: Gelsenkirchener Barock - viel Edelholz gepaart mit Naturmotiven auf den Sofabezügen und an der Wand. Es ist ein Ambiente, in das auch das Hobby von Hans-Günter Schärf bestens passt.

Dabei ist das Hirschrufen keineswegs nur ein Zeitvertreib, sondern darüber hinaus auch eine uralte Jagdtechnik. Mit dem wildtiergleichen Röhren werden während der Brunftzeit Hirsche angelockt. Immer ab dem Spätsommer sind die auf der Suche nach einem Rudel. Die Gruppen werden bei den Hirschen von Weibchen angeführt. Schafft es ein behörnter Herr in ein Rudel, so ist er fortan der Platzhirsch. Die anderen Männchen - mit denen er sich das Jahr über prächtig versteht - sind nun seine Feinde.

Das Röhren, das in dieser Zeit durch die Wälder klingt, richtet sich entsprechend nicht an die Huftier-Damen - das Rudel ist ja bereits erobert. Viel mehr ist das gallige Gebrumme ein verbaler Schlagabtausch mit möglichen Nebenbuhlern. „Wenn sich ein anderer Hirsch nährt, wird zuerst über das Röhren getestet, wie stark er ist“, erklärt Hans-Günter Schärf.

Immer im Februar finden in Dortmund die Deutschen Meisterschaften der Hirschrufer statt. Die Stimmathleten sind eine eingeschworene Gemeinschaft. Mehr als 20 Starter gibt es selten. In diesem Jahr triumphierte Thomas Soltwedel aus Dobbin-Linstow in Mecklenburg-Vorpommern. Er überzeugte die Jury mit seinen hirschgleichen Rufen, denen man ihren menschlichen Ursprung nicht anhörte. Zum Starterfeld gehörte mit Hildegard Zervos auch eine Frau. Sie wurde Sechste.

Der Harzer Hans-Günter Schärf nahm in diesem Jahr nicht an den Meisterschaften teil. „Es fehlte die Zeit und außerdem sind die Europameisterschaften in Weißrussland“, erklärt Schärf. Im Fall eines Sieges hätte er in das osteuropäische Land reisen müssen - und das sei ihm zu weit. Ein gewinn der Meisterschaft wäre dabei nicht abwegig. Schärf nimmt seit 2011 an dem Wettkampf teil, wobei er alle Podiumsplätze schon belegt hat. 2016 holte er sogar den Meistertitel.

Das stimmlichen Kräftemessen ist ein Taxieren des Gegners und soll das körperliche Aufeinandertreffen möglichst verhindern. „Man muss sich das wie bei testosterongesteuerten Männern vorstellen, die ihre Freundin in der Kneipe erst einmal mit ein paar markigen Worten verteidigen“, erklärt Schärf.

Zur Demonstration des Schlagabtauschs nach Geweihträger-Art schnappt er sich ein grünes Rohr, das wie ein Fernglas aussieht. Es ist ein Faulhaber Hirschrufer, benannt nach der österreichischen Firma, die das Spezialgerät herstellt. Schärf trötet gekonnt in die Röhre. Ein bedrohlicher Klang ertönt: tief, angriffslustig, wie ein Löwe der fauchend seine Beute verteidigen will. „Hau bloß ab“, sagt das Geräusch. „Sonst zieh ich dir den Pelz über die Ohren.“

Es ist nur einer der Rufe, die Schärf in seinem Repertoire hat. „Bei den Meisterschaften müssen verschiedene vorgeführt werden.“ Da wäre etwa der Junghirsch zu Beginn der Brunft. Schärf raunt in das grüne Rohr und erzeugt ein sehnsuchtsvolles Klagelied. „Der ist noch auf der Suche nach einem Rudel“, erklärt der Fachmann.

Dann kommt der aggressive Platzhirsch, kraftvoll und vor Selbstvertrauen strotzend. Und schließlich beendet Schärf seine Vorführung mit dem abgebrunfteten Hirsch, der sich nach einer anstrengenden Saison in eine Kuhle verzogen hat und die letzten Rufe in den Wald hallen lässt. Es ist ein fast schon gequältes Röhren, mit dem er sagen will: „Das Jahr ist vorbei, das Rudel beglückt - jetzt lasst mich einfach in Ruhe.“

Hirschrufen begleitet Hans-Günter Schärf ein Leben lang

So variantenreich den Sound des Waldes zu imitieren, lernte Hans-Günter Schärf durch viel Training. Das Hirschrufen allerdings begleitet ihn schon fast sein ganzes Leben lang. Schärf ist ein Kind der Bergwelt. Ein Harzer durch und durch. Als er aus dem Museum nach draußen geht, zieht er trotz Minusgraden keine Jacke über. „Ein echter Harzer wärmt sich am Eisblock“, meint Schärf trocken.

Aufgewachsen ist er in Silberhütte, einem Dorf etwas unterhalb von St. Andreasberg. Wenn man dort lebt, dann ist der Wald immer nur wenige Meter entfernt - egal in welche Himmelsrichtung man geht. Die Natur und ihre Bewohner sind nah. Zum Jahresablauf gehört deswegen auch das Röhren der Hirsche. „Als Kind haben wir uns einen Spaß daraus gemacht, die Tier nachzuahmen“, sagt Schärf. „Und wenn wirklich ein Hirsch kam, dann sind wir schnell auf einen Baum geflüchtet.“

In der Jugend wird aus dem Nervenkitzel dann ein Eroberungsritual - fast wie bei den Hirschen. „Es war üblich, während der Brunft mit einer Flasche Wein in den Wald zu gehen, vorzugsweise mit der Freundin - oder einer Frau, die zur Freundin werden sollte“, erzählt Schärf. Mutig wurde dann ein Hirsch durch entsprechende Rufe angelockt. „Und wenn er wirklich auftauchte, dann kam die leicht geängstigte Dame der Wahl einem plötzlich ganz nah“, meint der Harzer Casanova.

Hirschrufen ist eine seltene Kunst geworden

Mittlerweile ist die Lautmalerei in den Wäldern des Mittelgebirges allerdings selten geworden. In Osteuropa, wo die Wälder viel weiter sind, werde sie noch häufiger angewandt. „Bei uns sitzen die Jäger lieber auf dem Hochstand und warten, bis ihnen was vor die Flinte kommt“, sagt Schärf.

Dabei sei das Hirschrufen die spannendere Methode. Denn sie beinhaltet nicht das Röhren allein. „Man muss sich auch wie ein Hirsch verhalten, um einen anderen Hirsch anzulocken.“ Haken schlagen, mit Ästen gegen Bäume schlagen - so wie es Hirsche mit ihrem Geweih tun würden. „Und immer gegen den Wind gehen, sonst bemerkt das Tier sofort, dass sein Gegenüber ein Mensch ist.“

Dieses „Wind bekommen“ kann jedoch manchmal auch die Rettung sein - wie das eine Mal, als der schnaubende Hirsch in der sternenklaren Nacht Hans-Günter Schärf so bedrohlich nah kam. „Als er sich vor mir aufbaute, drehte plötzlich der Wind“, erzählt der 57-Jährige. Der Hirsch merkte, dass sein Gegner kein Nebenbuhler, sondern ein Mensch ist. Das Tier verzog sich schnell und Schärf fuhr mit zitternden Knien nach Hause. „Auf den Schreck trank ich dann erst einmal einen Schnaps.“ (mz)

Hans-Günter Schärf kann die Rufe der Hirsche täuschend echt nachahmen.
Hans-Günter Schärf kann die Rufe der Hirsche täuschend echt nachahmen.
dpa
Hirschrufer-Werkzeug: Ochsenhorn, Faulhaber und Eifel-Hirschrufer (von oben).
Hirschrufer-Werkzeug: Ochsenhorn, Faulhaber und Eifel-Hirschrufer (von oben).
A. Stedtler