Schnitte, Nadeln, Schere Schnitte, Nadeln, Schere: Die pendelnde Herrengewandmeisterin

Quedlinburg - Die Sängerinnen verneigen sich, die Tänzerin knickst, der Regisseur sonnt sich im Applaus, das Publikum jubelt den Stars des Abends auf der Bühne zu. Andrea Günzler steht nicht im Scheinwerferlicht, doch sie hat mit ihren vier Mitstreiterinnen ihren Anteil am Erfolg der Inszenierung.
Es sind nicht die Texte oder Noten, die ihre Arbeit bestimmen, sondern Schnitte, Nadeln, Schere, die Figurine und das Maßbuch. Denn die 54-Jährige arbeitet als Herrengewandmeisterin am Nordharzer Städtebundtheater.
„Ich bin jetzt da, wo ich schon immer hinwollte: am Theater.“
„Es hat sich ein Traum erfüllt. Ich bin jetzt da, wo ich schon immer hinwollte: am Theater.“ Dafür nimmt sie gerne ihren etwas längeren Arbeitsweg auf sich. „Ich pendele aus Nienburg an der Saale, das ist doch kein Problem.“
Während die erfahrene Kerstin Nagat als Leiterin des Kostümwesens für die Robe der Damen zuständig ist, trägt die Frau mit dem Bernburger Dialekt seit 1. Oktober 2019 die Verantwortung dafür, dass die Herren auf der Bühne so gekleidet sind, wie es sich die Ausstatterinnen der Stücke vorgestellt haben. Sie kommt aus der Schneiderei des Hauses.
Vor fast fünf Jahren als Aushilfe begonnen
Nach 25 Jahren Selbstständigkeit begann die Schneidermeisterin 2015 als Aushilfe am Theater, im März 2016 bewarb sie sich als Schneiderin, im Vorjahr dann für die Nachfolge von Silvia Mundt, die ein Vierteljahrhundert Maßstäbe als Herrengewandmeisterin setzte.
„Nun will ich diese Chance nutzen“, sagt Andrea Günzler, die nicht nur mit Nadel und Faden umgehen muss, sondern auch mit dem ganzen Drumherum von Stoffauswahl bis Abrechnung. „Denn die Kleiderträume sollten schon ins Budget passen.“
Kreatives Umsetzen gefragt
Mit Kostümen hatte sie schon früher zu tun. Nähte sie doch schon an der Saale auch für Karnevalsvereine, Kapellen und Chöre. „Den Unterschied macht, dass ich hier am Theater das kreativ umsetzen muss, was mir der Ausstatter auf den Figurinen vorgibt.“
Ihre erste Inszenierung, die sie als Gewandmeisterin vom Anfang bis zur Premiere begleitete, war „Unser Lehrer ist ein Troll“. „Das begann mit der Kostümbesprechung, ging über die Auswahl der Stoffe für die Schuluniformen der Darsteller bis zu den Anproben.“
Zwei Anproben reichen für gewöhnlich
Probiert wird vor dem großen Spiegel. „Gewöhnlich reichen zwei Anproben, aber wenn was aus dem Fundus geholt wird, kann es passieren, dass das eigene Kostüm von früher nicht mehr richtig passt. Auch weil Künstler unterdessen schlanker geworden sind.“
Da helfe es nicht, einfach ein Kissen unter den Anzug zu stopfen. „Da kommen oft aufwendig gestaltete Wattons zum Einsatz, die den Körper formen.“
Was in ihrem Büro fehlt: Computervermessungstechnik
Zwar recherchiert sie im Internet zu Stil, Stoffen und deren Verarbeitung, das Schneidern läuft weiter in bester handwerklichen Tradition; die Schnitte werden ausgerechnet und konstruiert, die Teile ausgeschnitten und gesteckt, „aber ohne die Künstler zu stechen“.
Vermessen werden die Herren mit dem Maßband, im wichtigen Maßbuch des Theaters verstecken sich alle Daten der Tänzer, Sänger und Choristen von Brustumfang bis Hutgröße und Kragenweite. „Ich habe gerade alle neu vermessen“, lacht Andrea Günzler, deren Oma schon Schneiderin war.
Als Kind das Bergtheater in Thale besucht
Bei ihrem ersten Theaterbesuch als Kind hatte die heutige Gewandmeisterin noch keinen Blick für die Schnitte der Kostüme. „Ich weiß nicht mehr, was gespielt wurde, aber die Aufführung lief im Bergtheater Thale.“ Sie war im Ferienlager vom Zementwerk in Hasselfelde und als Gruppe zum Ausflug auf dem Hexentanzplatz. Im kommenden Sommer sorgt sie nun selbst mit dafür, dass die Zuschauer auf dem Berg auch Erlebnisse fürs Auge haben werden. (mz)