Pflegeelternschaft Pflegeelternschaft : Und plötzlich ist es weg
Wernigerode - Wehmütig blättert Christiane Reimann das Fotoalbum durch. Die Bilder zeigen sie, ihren Mann Matthias, und - immer mit dabei - ihr Pflegekind, das anonym bleiben soll: in der Kiepe, mit Schwimmweste auf dem Boot, im Ferienhaus.
Mit acht Monaten kam das Kind im Januar 2017 zu den Wernigerödern. Jetzt, keine anderthalb Jahre später, ist es weg.
Der leibliche Vater habe es ohne Ankündigung zu sich genommen, sagen die Reimanns. „Wir haben uns auf dem Spielplatz verabredet“, schildert Matthias Reimann.
Treffen wie diese hätten in Absprache mit dem Jugendamt schon öfter stattgefunden.
Pflegeelternschaft: Das Kind einfach im Auto mitgenommen
„Plötzlich fuhr ein Auto vor, der Vater hat das Kind reingesetzt und ist losgefahren.“
Der Opa des Kindes sei dann gekommen und habe dem Pflegevater gedroht, dass er das jetzt akzeptieren müsse, andernfalls bekomme er Besuch. Am 24. April war das.
Über Monate war das Ehepaar, das beim Landkreis als Dauerpflegefamilie registriert war, davon ausgegangen, dass das Kind länger, vielleicht für immer bei ihm bleiben wird.
Statistisch gesehen wäre das sogar am wahrscheinlichsten: Geht es um Rückführungen in die leibliche Familie, werden bis heute immer wieder fünf Prozent genannt.
Diese Quote ist in der Jugendhilfe-Statistik 2005 ausgewiesen.
Pflegeelternschaft: Umgangszeiten wurden hochgeschraubt
Wie aber kam das Kind zu den Reimanns?
Vom Jugendamt hätten sie erfahren, dass die Eltern das Kind nicht gewollt hätten. Bereits kurz nach seiner Geburt sei es zu Bereitschaftspflegeeltern gekommen.
Im Dezember 2017 habe es die erste Begegnung mit dem Vater gegeben, im Januar 2018 sei ihm das Sorgerecht übertragen worden.
Gleichzeitig habe das Gericht beschlossen, dass das Kind noch in der Pflegefamilie bleibe, schildern die Reimanns.
Die Umgangszeiten seien hochgeschraubt worden - von einer Stunde wöchentlich auf zuletzt zweimal zwei Stunden.
„Das sollte erweitert werden, damit der Vater eine Beziehung aufbauen kann“, sagt Christiane Reimann. Gegen die seien sie und ihr Mann nie gewesen.
Pflegeelternschaft: Kind seit 24. April nicht mehr gesehen
Ob es diese Beziehung inzwischen gibt, der Vater eine ähnlich starke Bindung aufgebaut hat wie sie? Sie wissen es nicht, haben das Kind seit jenem Tag nicht gesehen.
Wegen der Drohung hätten sie die Polizei eingeschaltet, doch das Ermittlungsverfahren sei eingestellt worden.
Ihre Anwältin habe auf der Grundlage des richterlichen Beschlusses, dass das Kind bei den Pflegeeltern bleiben sollte, eine einstweilige Anordnung auf den Weg gebracht.
Das Kind hätten sie trotzdem nicht zurückbekommen und stattdessen vom Amt erfahren, dass es ihm „super geht“ und es „jetzt da ist, wo es hingehört“.
Pflegeelternschaft: Zweifel an der Entscheidung
Dass dabei im Sinne des Kindeswohls entschieden wurde, bezweifeln sie. Ihrem Pflegekind sei unvermittelt alles genommen worden, was es täglich umgeben habe. Nicht mal seinen Teddy habe es dabei.
Der Gedanke, ihrem Pflegekind nicht helfen zu können, quäle sie, sagt Christiane Reimann. Das Kind „hat uns vertraut, dass wir ihm Sicherheit geben, und jetzt können wir nichts dafür tun, dass die kleine Seele durch den erlittenen Verlust Schaden nimmt“.
Auch ihr Mann findet deutliche Worte: „Ein Kind ist kein Auto, das man anderthalb Jahre irgendwo parkt, um es sich dann abzuholen und zu sagen: Das ist meins.“
Pflegeelternschaft: Vom Jugendamt allein gelassen
Vom Jugendamt fühlen sie sich alleingelassen, das habe ihnen vorgeworfen, das Kind zu isolieren, zu klammern.
„Egal, was wir getan haben, wir wurden nicht gut bewertet. Das war keine faire Sache, dabei haben wir unsere Aufgabe erfüllt, dem Kind ein stabiles Umfeld gegeben, ein Zuhause.“
Pflegeelternschaft: Jugendam beruft sich auf Schweigepflicht
Das Jugendamt macht zum konkreten Fall keine Angaben, beruft sich auf seine Schweigepflicht. Die Zustimmung „der/ des“ Sorgeberechtigten sei nötig.
„Grundsätzlich ist dem Verlangen nach Rückkehr in die Herkunftsfamilie Rechnung zu tragen“, teilt es mit.
„Ob und in welcher Form eine Zusammenführung in den elterlichen Haushalt erfolgt, ist vom Einzelfall abhängig.“ Voraussetzung sei, dass sich die Erziehungsbedingungen verbessert hätten.
Entscheidend dafür, dass ein Kind in eine Pflegefamilie komme, sei eine sogenannte Mangelsituation in der Herkunftsfamilie. „Ausschließlich die ist in den Blick zu nehmen“, schreibt das Amt.
Das heißt: Relevant ist nur die Situation in der leiblichen Familie, nicht die in der Pflegefamilie.
Pflegeelternschaft: Eine Ausnahmesituation
Wolfgang Heine, stellvertretender Vorsitzender von Pflege- und Adoptivelternverein Wernigerode und Landesverband, kennt die Geschichte der Reimanns aus ihrer Sicht; sie hätten sein Mitgefühl.
Er arbeitet aber auch seit Jahren mit dem Jugendamt zusammen. So etwas laufe normalerweise geordnet ab.
„Sicher gibt es Reibungspunkte“, sagt er, auf die Zusammenarbeit eingehend, „aber die gibt es überall.“
Heine spricht von einer „Ausnahmesituation, die ich, solange ich dabei bin, noch nicht so erlebt habe“, die ihm aber auch - das verhehlt er nicht - die Sorgenfalten auf die Stirn treibt, denn „wir brauchen im Landkreis dringend Pflegeeltern, und wenn einem so etwas widerfährt …“
Pflegeelternschaft: Rückführung ist nie leicht
Ungeachtet der Umstände ist eine Rückführung nie leicht. Er kenne einen Fall, da sei das nach drei Jahren geschehen.
Bindungsabbrüche seien oft sehr belastend für ein Kind, vor allem, wenn dies abrupt, nicht vorhersehbar geschieht, sagt Cordula Lasner-Tietze, Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes.
„Wenn Kinder plötzlich aus ihrem Alltagserleben gerissen werden und nicht verstehen, warum, kann das langfristig gravierende Folgen haben, und zu einer nachhaltigen Verunsicherung und zu fehlendem Vertrauen in menschliche Beziehungen führen.“
Dass das passiert, davor haben die Reimanns Angst. Sich entschieden zu haben, ein Pflegekind aufzunehmen, bereuen sie aber nicht.
„Es war das Richtigste, Beste und Schönste, was wir tun konnten“, sagt Christiane Reimann. Zwei weitere Pflegekinder sollten folgen. Sollten. Jetzt haben sie und ihr Mann nur einen Wunsch: Ihr Pflegekind wiedersehen.
„Und wenn es nur ist, um zu gucken, wie es ihm geht und um uns zu verabschieden.“ (mz)