Durch die Hölle Durch die Hölle: Harz im Triathlon-Fieber

Quedlinburg - Den einen Satz hat Jessica Beer in den vergangenen Wochen und Monaten oft gehört: „Du schaffst das nicht.“ Gesagt haben diese Worte ihre Betreuer in der Wohngruppe, in der sie lebt. „Die glauben nicht an mich“, meint die 35-Jährige. Ihr freundliches Gesicht mit den geröteten Wangen wird plötzlich ganz grimmig. Die Augenbrauen ziehen sich zusammen, ihre Augen werden zu Schlitzen. „Aber denen werde ich es zeigen“, sagt Beer dann. „Denn ich bin eine richtige Sportskanone.“
Die Entschlossenheit, die aus dieser Kampfansage spricht, der Mut und auch der Wille, an die eigene Leistungsgrenze zu kommen - das alles wird Jessica Beer am kommenden Samstag brauchen. Denn dann wird sie durch die Hölle gehen. Oder genauer: Durch die Hölle laufen.
Die Hölle ist eine Gasse in Quedlinburg
Damit ist allerdings nicht die Unterwelt gemeint, auch wenn der Wetterdienst bis zu 31 Grad Celsius vorhersagt. Die Hölle ist eine bekannte Gasse in Quedlinburg (Harz), die am Wochenende von Hunderten Sportlern durchquert wird. Der kleine Straßenzug gehört zu den letzten Metern eines Triathlons, der auf dem Marktplatz der Welterbestadt endet. Sein Name: „Hölle von Q“. Und Jessica Beer ist eine der Teilnehmerinnen.
Allerdings wird die Quedlinburgerin nicht am Sonntag starten, wo sich die meisten Sportler auf die Schwimm-, Rad- und Laufstrecke stürzen. Beer geht bereits am Samstag ins Rennen, bei der „Hölle Special“. Dieser Wettkampf richtet sich im Sinne der „Special Olympics“-Bewegung an geistig behinderte Menschen und findet in diesem Jahr zum ersten Mal statt. Geschwommen werden anstatt zwei Kilometer 150 Meter. Auf dem Rad sitzen die Athleten fünf und nicht, wie am Sonntag, 81 Kilometer. Und der abschließende Lauf ist nicht 21, sondern zwei Kilometer lang.
Treffpunkt Teufelsmauer
Trotz der reduzierten Strecke: Vorbereitung ist für die oft auch durch körperliche Einschränkungen gehandicapten Athleten wichtig. Deswegen hat sich Jessica Beer am Montagnachmittag mit ihrer Trainingsgruppe verabredet. Es ist der letzte Probelauf vor dem Wettkampf. Etwa zehn Sportler sind da - trotz der Hitze. Die Temperaturen haben die 30 Grad Marke bereits überschritten. Zur Hölle passt auch der Treffpunkt an der bekannten Teufelsmauer in Neinstedt, einem Ortsteil von Thale (Harz). Hier wird der Fahrrad-Teil am Samstag starten.
Als Beer, den Radhelm auf dem Kopf und das Fahrrad in Griffweite, gerade von ihren negativen Erfahrungen im Vorfeld des Triathlons erzählt, kommt Winfried Knorr auf sie zu. „Jessica, wir haben so viel schon gemeinsam geschafft“, sagt er. „Wir sind auf den Brocken gestiegen und waren in den Alpen Klettersteige klettern.“ Nach diesen Erlebnissen werde sie den Wettkampf am Sonntag auch meistern, meint er.
Winfried Knorr, genannt „Knorri“, arbeitet bei der Evangelischen Stiftung Neinstedt, die viele behinderte Menschen betreut. Knorr ist Teil des Freizeit-Teams und kümmert sich auch um die Sportgruppen. Dass es die „Hölle Special“ gibt, ist auch ihm zu verdanken. „Mit einem Triathlon hatte ich schon länger geliebäugelt“, erzählt Knorr.
Allerdings habe es immer an verschiedenen organisatorischen Punkten gehakt. Dann allerdings meldete er sich als freiwilliger Helfer bei der „Hölle von Q“ und lernte den Veranstalter des Triathlons, Mark Hörstermann, kennen. „Und zusammen entwickelten wir dann die Idee zur Special-Variante.“
Die Idee zum Hölle-Triathlon kam Mark Hörstermann, als er selbst für einen Wettkampf trainierte. „Damals lebte ich noch in Berlin und meine Partnerin in Quedlinburg“, erzählt der freiberufliche Kommunikationsberater.
Als er durch den Harz lief, schwamm und radelte, stellte er fest, wie schön die Gegend ist. „Und ich dachte: Hier muss doch ein Triathlon her.“ Mit seiner Idee stieß er sofort auf viel Gegenliebe. „Jeder, dem ich von der Idee erzählte, war begeistert“, sagt Hörstermann. Auch die Städte Quedlinburg und Thale konnte er vom Konzept überzeugen. 2017 fand der erste „Hölle von Q“-Triathlon statt.
Bei der dritten Auflage in diesem Jahr gehen 430 Sportler aus Deutschland und Europa an den Start. Die „Hölle von Q“ (benannt nach der Quedlinburger Gasse „Hölle“) ist ein Mitteldistanz-Triathlon. Nach zwei Kilometern Schwimmen folgen 81 Kilometer Fahrrad.
Zum Schluss steht dann der 21,1 Kilometer lange Halbmarathon an. „Über die gesamte Strecke werden 1 600 Höhenmeter absolviert“, sagt Mark Hörstermann. Das gebe es sonst nur in den Alpen. Und der Wettkampf sei auch eine Art Sightseeingtour, die mit Rosstrappe, Teufelsmauer und Welterbestadt einige Höhepunkte des Harzes passiere.
Für Hörstermann, der auch mit zum Training an der Teufelsmauer gekommen ist, war ein entscheidender Eindruck der Triathlon 2018. „Da gab es in den Neinstedt ein sogenanntes Stimmungsnest, wo die Sportler mit Getränken versorgt werden“, erzählt er. Dort hätten auch Bewohner und Mitarbeiter der Behinderten-Einrichtung gestanden und die Athleten angefeuert. „Da ist der Funke übergesprungen“, sagt Hörstermann.
Anfang Januar fassten die beiden Männer den Entschluss, die „Hölle Special“ anzugehen. „Das war schon ein Wagnis“, sagt Winfreid Knorr. 40 Jahre Berufserfahrung hat er, auch mit Wettkämpfen und Extrembelastungen kennt er sich aus. „Ich bin mit dem Fahrrad durch den Himalaya, die Atacama-Wüste und Tadschikistan gefahren“, erzählt Knorr. Aber einen Triathlon für geistig behinderte Menschen zu organisieren, das sei eine ganz eigene Herausforderung. Auch, weil neben den organisatorischen Überlegungen viel Überzeugungsarbeit geleistet werden muss.
Die Leitung der Evangelischen Stiftung habe zwar schnell grünes Licht gegeben. „Allerdings kam von vielen Seiten immer wieder der Einwand: Die schaffen das nicht“, sagt Knorr. Das färbte auch auf die Sportler ab. Bei Jessica etwa sei es das Laufen gewesen. Das sagt sie auch selbst: „Schwimmen und Fahrradfahren ist für mich ein Klacks, aber vor dem Laufen fürchte ich mich.“ Knorr habe jedoch versucht, ihr die Angst zu nehmen. „Ich sage zu Jessica immer: Wenn du die zwei Kilometer nicht laufen kannst, dann kannst Du sie zumindest schnell gehen“, erzählt er. „Und du weist, die Anstrengung ist entscheidend - und, dass du überhaupt mitmachst.“
Premiere mit 80 Teilnehmern
Mit dieser Herangehensweise konnte Knorr rund 80 Athleten für die „Hölle Special“ gewinnen - beachtlich für die erste Auflage. Dabei half, dass sich die Sportler auch gegenseitig motivierten. Jessica Beer etwa überzeugte ihren Freund, Lars Zeising, dabei zu sein. „Er wollte erst nicht, zögerte, weil er lange nicht mehr Fahrrad gefahren ist und auch kein eigenes hat“, sagt die junge Frau. Doch die Organisatoren starteten einen Aufruf und bekamen fünf Fahrräder gespendet. „Und anschließend haben wir mit dem Rad trainiert“, erzählt Winfried Knorr. Denn der Ansatz sei immer gewesen, dass jeder der will, auch mit dabei sein kann.
Am Samstag werden Jessica Beer und Lars Zeising allerdings nicht zusammen schwimmen, radeln und laufen. „Jeder macht das in seinem Tempo“, sagt Zeising. Denn wer wie schnell ist, sei vollkommen egal. „Ich will nur durchhalten“, meint auch Jessica Beer und guckt wieder grimmig. „Allein schon, um es den Zweiflern in der Wohngruppe zu zeigen.“ (mz)