Drogensucht Drogensucht : Der lange Weg zur Rettung

Wernigerode - Gerade einmal zwölf Jahre alt ist er, als Leon Becker (Name von der Redaktion geändert) zum ersten Mal Drogen nimmt. „Ich hatte einen Schulabgänger vom Gymnasium kennengelernt, mit dem ich in den Jugendtreff im Ort gegangen bin. Viele da waren älter als ich, und die haben zu mir gesagt: ,Leg dir mal das Blättchen auf die Zunge‘“, erzählt er. Der Junge tut, was sie ihm sagen, ist danach oft mit Älteren im nahe gelegenen Görlitz unterwegs. „Ich fand mich cool damals“, sagt er. Leon Becker konsumiert Cannabis und Alkohol, vor allem aber synthetische Drogen. Er wird abhängig und bleibt es für 17 Jahre.
Leben auf dem Bauernhof
Aufgewachsen ist Leon Becker auf einem Bauernhof. „Es war idyllisch, ich hatte Freunde und in der Schule ein gutes Ansehen“, erzählt der heute 31-Jährige. Einzig sein Vater passt nicht ganz in das harmonische Bild. „Er war alkoholabhängig“, berichtet Becker. „Als ich neun Jahre alt war, hat meine Mutter ihn rausgeschmissen.“ Eine Vaterfigur fehlt danach, und drei Jahre später rutscht Becker selbst in die Abhängigkeit. Irgendwie schafft er trotzdem den Realschulabschluss. „Mir ist in der Schule damals alles zugefallen; wahrscheinlich habe ich es deshalb geschafft“, sagt er.
Leon Becker beginnt eine Ausbildung, bricht sie nach wenigen Monaten ab. Ebenso die drei folgenden Lehren. „Das Arbeiten ging immer, da konnte ich meine Sucht ganz gut verbergen. Aber sobald es in die Berufsschule ging, habe ich die Ausbildung abgebrochen.“ Das Jahr während seines Zivildienstes ist das einzige, in dem er seine Arbeit durchzieht.
In der Abwärtsspirale ist er jedoch längst gefangen: Er fliegt von Zuhause raus, verliert seinen Führerschein, beginnt zu klauen und zu betrügen, um seine Drogen zu finanzieren. „Mit 25 kam dann die erste Haftstrafe“, sagt Becker. „In der JVA habe ich gedacht: Jetzt ändere ich mein Leben. Aber danach ging es genauso weiter wie vorher.“
Es ist kein Einzelfall
Die Geschichte von Leon Becker ist kein Einzelfall. „Wir erleben das oft“, sagt Claudia John, Leiterin des Ambulant Betreuten Wohnens vom Diakonie-Krankenhaus Elbingerode. „Die Menschen müssen erst am Boden liegen, dann klickt ein Schalter um.“ Für Leon Becker folgen noch drei weitere Haftstrafen, auch nach diesen verändert sich nichts - trotz guter Vorsätze. Seine Rettung wird eine Bewährungsstrafe, die an einen Entzug geknüpft ist. Therapie oder Haft, das waren seine Optionen. Leon Becker entscheidet sich für ersteres. „Die Not musste erst groß genug sein“, sagt er.
Acht Wochen Entgiftung
Leon Becker kommt für acht Wochen zur Entgiftung in eine Klinik, absolviert danach in Elbingerode eine 26-wöchige Therapie. „Ein Umfeldwechsel war extrem wichtig für mich“, sagt er. Im Anschluss zieht Becker für anderthalb Jahre in das Übergangswohnheim „Haus Waldhof“ in Blankenburg, das clean lebenden Menschen eine 24-Stunden-Betreuung bietet. „Es ging darum, die kleinen Sachen wieder zu lernen und sich bei Problemen nicht in die Welt der Drogen zu flüchten“, erzählt Becker.
Seit Juni ist er nun einer von 53 Bewohnern des Ambulant Betreuten Wohnens (ABW). Die Suchtkranken - alle müssen bereits eine Entgiftungstherapie und Reha abgeschlossen haben - leben hier zu zweit oder zu dritt in möblierten Wohngemeinschaften, verteilt in Wernigerode.
Stück für Stück ins Leben zurück
„Viele kommen mit einem Rucksack voll Problemen, aber komplett leeren Taschen“, sagt Claudia John. In den WGs können die Menschen „ankommen“ und Stück für Stück zurück ins Leben finden. Sie bekommen Unterstützung bei der Schuldenregulierung oder beim Nachholen eines Schulabschlusses Durch spontane Schnelltests wird überprüft, ob die Bewohner clean bleiben. Im Regelfall seien diese Tests negativ, so Claudia John.
Aber auch wenn die Sucht erst einmal unter Kontrolle scheint, bestehen andere Probleme weiter. Viele haben verlernt, wie ein geregelter Tagesablauf aussieht. Dazu kommen häufig Erkrankungen wie Depressionen, Psychosen oder eine Schizophrenie, die als Spuren des Drogenkonsums bleiben. „Viele machen nebenbei eine Psycho- oder Traumatherapie“, berichtet John.
Das hänge auch damit zusammen, dass sich die ABW-Bewohner verändert haben: Vom „klassischen“ Alkoholiker hin zu zunehmend jungen Menschen, die alles getestet und konsumiert haben. „Der Jüngste bei uns ist 21“, so John. Vom Studenten über den Handwerker bis zum Steuerfachangestellten seien alle Gesellschaftsgruppen vertreten.
Für ein Jahr befristet
Finanziert wird das ABW für die Bewohner durch den jeweiligen Sozialhilfeträger, zunächst befristet für ein Jahr. Zu Beginn formuliert jeder Suchtkranke seine Ziele. Für Leon Becker sind das Dinge, wie eine Tagesstruktur einzuhalten, Lob anzunehmen und sein Selbstwertgefühl zu stärken. Er beginnt, in der Trainingsküche des ABW zu arbeiten, in der für 30 bis 40 Leute gekocht wird. Inzwischen ist er ehrenamtlich in einem Altenheim beschäftigt und hofft, dort eine Ausbildung anfangen zu können.
Leon Becker hat inzwischen gelernt, wieder Freude an kleinen Dingen zu finden, ohne die aufputschende, euphorisierende Wirkung der Drogen. Vor allem Sport ist für ihn wichtig geworden. „Es gab Zeiten, da habe ich nicht mehr damit gerechnet, dass ich den Absprung noch schaffe“, gibt er zu. Auch Claudia John sagt: „Wir können nicht jeden retten.“ Aber bei der Mehrheit der Bewohner klappt es. Leon Becker ist auf dem Weg, einer der Geretteten zu werden. (mz)
