Landflucht Landflucht: Im Dorf der alten Leute
BRANDHORST/MZ. - Das ist übertrieben, aber nicht viel. Brandhorst altert: Die Hälfte der 104 Einwohner des Dorfes im Landkreis Wittenberg ist über 50. Jugendliche im Alter zwischen 15 und 20 Jahren gibt es nach jüngsten Zahlen des Statistischen Landesamtes genau vier. Kinder und Jugendliche unter 15? In Brandhorst wohnen ganze sechs. Nicht
das einzige Problem. Seit 2000 sind in dem Dorf genau zwei Kinder geboren worden, im März 2002 und im Februar 2005. Der Ort hat damit die zweitniedrigste Geburtenrate in ganz Sachsen-Anhalt. Nur Losse in der Altmark ist noch schlechter dran - dort kam in den zurückliegenden acht Jahren nicht ein einziges Baby zur Welt.
Woran liegt's? Erhard Förtsch schenkt sich Mineralwasser nach und zuckt mit den Schultern, als wollte er sagen, woran schon? Dann erzählt der ehrenamtliche Bürgermeister von jungen Frauen, die eigentlich gerne Kinder hätten, aber lieber darauf verzichten, weil sie um ihren Job fürchten. Wenn sie denn überhaupt einen haben. Wenn nicht? "Dann ziehen sie in den Westen", sagt Förtsch resigniert. Wie alle, die Arbeit suchen, aber in der Heimat keine finden.
Keinen Job bekommen
Liddy Zimmermann weiß das aus eigener Erfahrung. "Mein einer Sohn ist in Hamburg, der andere in Bayern", erzählt die 80-Jährige. Nur ihre Tochter ist hier geblieben, "gleich da drüben". Liddy Zimmermann deutet auf die andere Straßenseite. Das ist schon Kakau, nicht mehr Brandhorst. Ihre Tochter kommt dazu, erzählt: "Unser Sohn ist schon seit 1996 in Hannover. Er wäre gerne hier geblieben, aber er hat keinen Job bekommen."
So wie die Menschen Brandhorst verlassen, verlassen sie auch das ganze Land: Derzeit hat Sachsen-Anhalt noch 2,41 Millionen Einwohner, über 400 000 weniger als im Jahr 1991. Allein im vergangenen Jahr suchten 51 273 Bewohner das Glück in der Ferne, nur 33 765 wurden als Neubürger registriert. Macht unterm Strich einen Aderlass von 17 508 Menschen - eine Stadt von der Größe Bitterfelds. Das Verhältnis ist seit Jahren so: mehr Weg- als Zuzüge. Die meisten, die gehen, sind zwischen 19 und 35. Die Geburtenzahlen dagegen steigen sogar leicht - von 16 927 im Jahr 2006 auf 17 387 im vergangenen Jahr. Zugleich sterben aber immer noch viel mehr Menschen, so dass das Geburtendefizit seit 1999 stets um die 12 000er Marke schwankt.
Brandhorst ist also kein Einzelfall. Das Dorf hat aber ein Problem, das viele andere nicht haben. Bürgermeister Förtsch würde gerne Häuslebauer in den Ort holen. "Wir haben aber so gut wie keine Grundstücke, die wir als Bauland jungen Familien anbieten könnten." Das gemeindeeigene Land beschränke sich auf einen Straßenabschnitt und ein Stück Acker, der gerade verpachtet sei. Und die meisten Privatflächen seien zu klein, um dort noch zusätzlich zu bauen.
Weder Kita nach Feuerwehr
Anders im benachbarten Horstdorf, das laut Förtsch Einwohnerzuwachs verzeichnet. So viel, dass zwei Kindergärtnerinnen Arbeit finden. Brandhorst dagegen hat noch nicht mal eine Kita. Auch keinen Jugendclub, keine Feuerwehr, keine Vereine. Die LPG als größter Arbeitgeber hat nach der Wende dichtgemacht, die einzige Kneipe schon Anfang der 50er Jahre. Lebendiges Dorfleben? Förtsch grinst verlegen: "Eher nicht. Bei uns spielt sich halt vieles in Oranienbaum ab." Die 3 300-Einwohner-Stadt liegt gleich nebenan.
Wollen die Brandhorster zum Bäcker oder zum Fleischer, müssen sie indes nicht nach Oranienbaum. Beide Geschäfte befinden sich in einem von zwei weißen Flachbauten, die ein Investor neben die Wohnhäuser und Gehöfte in den Ort gesetzt hat. Dort haben sich auch die Filiale einer Drogerie-Kette, ein Getränkehändler und ein Raiffeisenmarkt niedergelassen. Nur von Brandhorst könnten die Läden jedoch nicht leben. "Wir haben viele Kunden von außerhalb", bestätigt die junge Frau hinter der Bäckerei-Theke.
Hat der Bürgermeister Angst, dass sein Dorf irgendwann ausstirbt? Erhard Förtsch überlegt einen Augenblick. "Wir haben wenig Spielraum gegenzusteuern", sagt er dann. Die Menschen würden immer älter, junge kämen kaum nach. "Irgendwann werden hier wirklich nur noch Rentner wohnen."
Nächste Folge: Wie Gerbstedt im Mansfelder Land versucht, die jungen Leute im Ort zu halten.