Landeshauptstadt Magdeburg Landeshauptstadt Magdeburg: Hallenser haben mit der Entscheidung leben gelernt
Halle/MZ. - Wer an diesem 31. August 1990 in seine Tageszeitung schaute, der konnte dort schwarz auf weiß lesen, was vor allem den Hallensern wie Blei auf der Brust liegen musste: In dem neuen Sachsen-Anhalt würde Magdeburg Landeshauptstadt werden. 1 298 kommunale Abgeordnete aus Nord und Süd hatten in einem als Empfehlung gedachten Urnengang für Magdeburg plädiert, ganze 882 für Halle. Der Traum von der Landeshauptstadt Halle: Aus, vorbei, vergessen? Tatsächlich bestätigte im Oktober 1990 der erste frei gewählte Landtag in Dessau das Votum. Magdeburg gewann souverän.
Kaum ein anderes Thema hat seitdem das Land so bewegt wie die Frage, welche Hauptstadt die richtige ist. Und selten ging so viel Zeit ins Land, bis sich die Gemüter nach einer strittigen landespolitischen Entscheidung wieder beruhigt hatten. Es dauerte lange, bis die Saalestadt wieder zu sich selbst fand. "Seit Halle offizielle Kulturhauptstadt des Landes ist, können wir mit der damals entstandenen Wunde besser leben. Sie ist inzwischen verheilt", zeigt sich Halles Oberbürgermeisterin Ingrid Häußler (SPD) sicher. Nicht, ohne sofort nachzuschieben: "Allerdings müssen wir mehr Aufwand treiben, um die notwendige Nähe zu den Entscheidungsträgern in der Landesregierung herzustellen."
Wie vor 15 Jahren ist es auch heute noch das Trauma der mit 236 000 Einwohnern größten Stadt im Lande, politisch benachteiligt zu werden. Wer Hauptstadt eines Bundeslandes wird, so lautete deshalb schon im Frühjahr 1990 das Kalkül, der würde über Macht, Einfluss und Geld verfügen. So begann in den letzten Tagen der DDR ein erbitterter Kampf um die Vorherrschaft im Lande. Um jedes Detail wurde wochenlang gerungen.
Die einen monierten, dass der Landeswahlausschuss mit fünf Magdeburgern und nur zwei Hallensern besetzt werden sollte. Die anderen witterten Verrat, weil das Medienzentrum für die Landtagswahl nach Halle wandern sollte. Die Magdeburger Lokalzeitung weigerte sich plötzlich, hallesche Werbeanzeigen zu drucken. Und auf einmal wurden Stasi-Vorwürfe gegen Halles Oberbürgermeister Peter Renger (CDU) laut - die Stadt war plötzlich wie gelähmt.
Torsten Gruß, damals stellvertretender Vorsitzender im Landeswahlausschuss und heute stellvertretender Landtagsdirektor, beschreibt das Klima als "unglaublich emotional". Im Rückblick
glaubt er, dass Halle den Kampf um die Landeshauptstadt unterschätzt habe. "Die Stadt glaubte, sie müsste automatisch Hauptstadt werden, weil sie es 1947 auch gewesen war." Immerhin waren bis zur Auflösung des Landes und der Bildung der DDR-Bezirke 1952 die politischen Entscheidungen an der Saale getroffen worden.
Magdeburg agierte anders: Dessen Obere zogen durch die Lande und die Fäden in den Hinterzimmern. Genauso wie die Berater aus Niedersachsen, die beim Aufbau Sachsen-Anhalts halfen und denen Magdeburg im wahrsten Sinne des Wortes sehr viel näher war.
Tatsächlich aber hatte Halle einen zentralen Faktor nicht im Blick. Und der hieß Dessau. "Wir fühlten uns immer als das fünfte Rad am Wagen der Bezirksstadt Halle", erinnert sich der damalige Dessauer Oberbürgermeister Jürgen Neubert (FDP). Manche träumten sogar den eigenen Traum, als Hauptstadt Anhalts nun auch Landeshauptstadt zu werden. Doch diesen Traum hielt Neubert, heute 65 Jahre alt und inzwischen pensioniert, nie für realistisch. Denn die Wahrheit sah ganz anders aus: "Uns wurde über informelle Kontakte signalisiert, dass wir bei einem Votum für Magdeburg Sitz eines Regierungspräsidiums werden würden." Mehr will Neubert nicht verraten.
Eine Darstellung, die wiederum Gerd Gies so nicht stehen lassen will. Der Unionspolitiker, der im Oktober 1990 der erste Ministerpräsident des wiederentstandenen Landes werden sollte, sah sich anderen Überlegungen verpflichtet. Dessau hätte ohnehin den Sitz eines Regierungspräsidiums erhalten. "Ich persönlich konnte mit jeder Entscheidung leben", versichert der Stendaler.
Für Halle habe die Tatsache gesprochen, dass die Stadt trotz maroden Zustands eine frühere Landeshauptstadt mit guter Infrastruktur und der Chance auf eine Zentrumsfunktion in Mitteldeutschland gewesen sei. "Für Magdeburg sprach, dass es diese Vorzüge genau nicht hatte, und dass man sie dort entwickeln konnte." Ohne Regierungssitz hätte die Stadt im Norden kein Entwicklungspotenzial besessen.
So ist sich Gies im Jahre 2005 sicher, dass die Entscheidung für Magdeburg "die richtige war". Genau wie Torsten Gruß. "Gerade ein Land wie Sachsen-Anhalt mit seinen vielfältigen Identitäten braucht einen Spannungsbogen zwischen Nord und Süd. Er muss nur konstruktiv bleiben."