Reiner Kunzes Ost-West-Briefwechsel mit dem Journalisten Jürgen P. Wallmann Deutsche Post
Von Thüringen nach Westfalen und zurück: Reiner Kunzes Ost-West-Briefwechsel mit dem Journalisten Jürgen P. Wallmann

HALLE/MZ - Halle, am 8. April 1970: Eine Menschenmenge staut sich vor dem Tor der Burg Giebichenstein. „Wegen Überfüllung geschlossen“ verkündet ein Zettel. In der Tat: Der Raum der Kunsthochschule, in dem der Dichter Reiner Kunze auf Einladung von Studenten lesen wird, ist längst bis auf den letzten Platz gefüllt. So groß ist der Andrang, dass der im thüringischen Greiz lebende Schriftsteller, der im Westen gerade den Gedichtband „sensible wege“ veröffentlicht hat, zu einer zweiten Lesung gebeten wird.
Die findet am 26. Mai 1970 in einem größeren Saal im Botanischen Institut am Botanischen Garten in Halle statt. Die Zuhörer sitzen sogar auf den Fensterbrettern. Der Dichter, der 1968 aus Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings aus der SED ausgetreten war, zieht sein Publikum auch ohne große Werbung. Die „sensiblen wege“ kursieren in handschriftlichen Abschriften, die auch zu den Einladungen nach Halle führten.
Kunze, der 1933 im Erzgebirge als Sohn eines Bergarbeiters geborene Schriftsteller, der vom Partei-Journalismus zur Dichtung gekommen war, die ihn langsam von der Partei entfernte, ist überrascht. Nie habe er geglaubt, notiert er nach den Auftritten in Halle, dass das von ihm verfasste „stille, unscheinbare, kaum zu hörende Gedicht“ von Hand zu Hand gehen und solchen Zulauf auslösen könnte. In Halle erlebte Kunze „eine solche Woge von Sympathie, daß ich erschüttert war“.
„Nabelschnur zur Welt“
Der Schriftsteller notiert das nicht für sich selbst, sondern für den westdeutschen, seinerzeit im westfälischen Telgte lebenden Literaturjournalisten Jürgen P. Wallmann. 1969 hatte Kunze den sechs Jahre jüngeren Mann während der Leipziger Buchmesse kennengelernt. Eine Freundschaft nahm ihren Lauf, deren schriftliche Dokumente jetzt aus dem Nachlass des 2010 gestorbenen Journalisten veröffentlicht worden sind. Ausgewählt und gründlich kommentiert von dem Literaturwissenschaftler und Kunze-Kenner Heiner M. Feldkamp, liegt der deutsch-deutsche Briefwechsel vor unter dem Titel „Nabelschnur zur Welt“ – so hatte der Dichter den Postverkehr zwischen Greiz und Telgte genannt.
Das Buch ist ein Ereignis, weil es am konkreten Beispiel eines Dichters Zeit- und Poesiegeschichte vor 1989 engführt: Denn der ost- ist kaum ohne den westdeutschen Literatur- und Kulturbetrieb zu verstehen. Nicht ohne dessen Echos und Impulse. Geboten wird ein Blick auf den Schreibtisch des Autors, dessen 1973 bei Reclam Leipzig veröffentlichter Gedichtband „Brief mit blauem Siegel“ legendär wurde. Ein leidenschaftlicher Briefschreiber ist der heute bei Passau lebende Reiner Kunze, der im nächsten Jahr 90 Jahre alt wird, immer gewesen – mit einer Liebe zu schönen Briefmarken. Kunze 1972 an Wallmann: „Ich hoffe, der Umschlag hat Dich ob seiner Farbenpracht vom Stuhl geschleudert“.
Insgesamt 91 aus den Jahren von 1969 bis 1977 – der Ausreise Kunzes aus der DDR – verfasste Briefe bietet das Buch: die Schreiben des Dichters und des Journalisten, der sich zu einer Art Öffentlichkeitsarbeiter für den Dichter entwickelt (Kunze: „Alles hilft, was Öffentlichkeit macht“), der im Osten zwar einige Westreisen durchsetzen konnte, seit den 1970er Jahren aber immer stärker von der SED-Herrschaft ausgegrenzt, schließlich bedroht wurde. Man wollte Kunze loswerden. Als das nicht durch genehmigte Westreisen gelang, sollte es durch mörderische Stasi-Nachstellungen erzwungen werden, was Kunze 1990 mit der Dokumentation „Deckname Lyrik“ belegte.
Der Briefwechsel zeigt den Alltag, in dem Kunze lebte, der 1976 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Seine literarische Lage in der DDR bezeichnet er als ein „Riesengrab“. Immer ist Kampf. Auch mit den Institutionen vor Ort. 1974 soll Kunzes Adoptivtochter Marcela aus der Erweiterten Oberschule „entfernt“ werden, weil sie eine von Feldkamp besorgte Westtragetasche in einer Versammlung trug. Kunze, den die Kämpfe „EKG-kontrollreif“ machen, schreibt im Blick auf die Schule von einer „Ideologie, die über Leichen geht“. Ihn treibt die Sorge um, dass sich seine Tochter „eines Tages etwas antut oder eine Unbedachtheit begeht“. Der 1976 im Westen verlegte Band „Die wunderbaren Jahre“ erzählt davon.
Ganz oder gar nicht
Jürgen P. Wallmann hilft – praktisch, geistig, sozial. Er versorgt den Schriftsteller mit Literatur, mit Kontakten, aber auch mit nützlichen Dingen: einem Heizlüfter oder einer beheizbaren Heckscheibe für das Auto. Eindrücklich ist die Disziplin, mit der Reiner Kunze seinen Alltag ordnet. Er verteidigt die eigene Hoheit, zum Objekt lässt er sich nie machen. Stets ist er vorbereitet auf das, was kommen könnte. Auch dem Brieffreund steht er bei. Als Wallmann die Ehe-Scheidung erwägt, rät Kunze zur Trennung: „Mein Leben war eigentlich immer ,absolut’. Auch in den Irrtümern. Entweder ganz oder gar nicht. Chirurgie ohne Zeitverlust. Ihr seid noch nicht zu alt.“
Selten zuvor war der Privatperson Reiner Kunze so nahe zu kommen. Und seinen Ansichten zur Literatur. Darunter diese von Ende 1972: „Aber eine Erfahrung habe ich gewonnen: Macht reagiert nur auf Macht, und Literatur muß sich zumindest in Macht der Öffentlichkeit umsetzen, bevor politisch etablierte Macht dazu bereit ist, der Vernunft zu gehorchen und der Literatur zu geben, was der Literatur ist.“
Nabelschnur zur Welt. Reiner Kunzes deutsch-deutscher Briefwechsel mit Jürgen P. Wallmann. Hg. von Heiner M. Feldkamp. Edition Toni Pongratz, 180 Seiten, mit Abb., 28 Euro