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Neue Gedichte von Wilhelm Bartsch Der Niemandslandsmann

Nach sechs Jahren legt der hallesche Schriftsteller Wilhelm Bartsch einen neuen großen Gedichtband vor. Es ist ein Buch der Inventur und Selbstbefragung.

Von Christian Eger Aktualisiert: 01.03.2024, 16:34
Schriftsteller Wilhelm Bartsch: „Ein Kind der Zeit war ich...“
Schriftsteller Wilhelm Bartsch: „Ein Kind der Zeit war ich...“ (Foto: Mario Schneider)

Halle/MZ. - Ist das ein Abschied? Keinesfalls, auch wenn es in manchen Versen den Anschein hat. So oft ist in Wilhelm Bartschs neuem Gedichtband vom „farewell“ die Rede, vom Lebewohl, dass sich der geneigte Leser schon Sorgen macht. Aber das, wozu der namhafteste Dichter Sachsen-Anhalts hier einlädt, ist – aufs Ganze gesehen – keine letzte, sondern noch einmal eine thematisch große Runde, gestaltet nicht als Abspann, sondern als eine große Fahrt. Eine Inventur von Themen und Thesen. Und schließlich auch: ein poetisches Vermächtnis.

Mit Hilbig und Novalis

„Hohe See und niemands Land“ – so heißt der neue, nach sechs Jahren jetzt bei Wallstein in Göttingen veröffentlichte Gedichtband des in Halle lebenden Schriftstellers. Nach inzwischen mehr als sechs Bänden Lyrik, vier Romanen, nach Erzählungen und Essays, bündelt der 73-Jährige in Verse, was ihn umtreibt, immer umgetrieben hat: die Welt zu erkennen, zu preisen und – immer auch – zu bessern. Die hohe See: Das ist die Gegenwart. Niemands Land: Das ist die Vision einer Zukunft, die nicht an Herrschaft, Ideologie und Eigentum gebunden ist.

Fast 90 Gedichte, darunter 56 an Shakespeare orientierte Sonette, geordnet in fünf Abteilungen, bietet der Band. Dessen Struktur ist die einer Reise: vom Fernen ins Nahe, vom Äußeren ins Innere. Von dem – den Bartsch-Lesern bekannten – nordischen Ginnungagap, dem mythischen Vor-Chaos, bis hin zum konkreten Chaos der Gegenwart. Wie der mittelalterliche, das Land der Verheißung suchende irische Mönch Brendan, den Bartsch als ein Alter Ego aufruft, segelt der Dichter seine Bilder und Begriffe ab, auf der Suche nach dem, was Sinn und Halt gibt.

Mit einer Anrufung der „Frau Welt“ beginnt das Buch, von der sich der nach Erkenntnis drängende Dichter – farewell, farewell – verabschiedet, um zu seiner poetischen Grand Tour aufzubrechen. Geschichte und landschaftlich Geschichtetes, Erlebtes und Erlesenes, vom hohen Norden bis nach Süden und Osten, vom Eismeer aus über die Landschaft um Halle und Leipzig bis hin zu den Orten des Schreckens der neueren Zivilisation: Aleppo, Bergkarabach, auch Auschwitz, dem sich der Lyriker in zwei Gedichten nähert, was ein Wagnis ist. Bartsch, ist ein Dichter, der aufs Ganze geht.

„Ein Kind der Zeit war ich“

Und ans lebensgeschichtlich Eingemachte. „Ein Kind der Zeit war ich, das springt und hüpft“, heißt es. Und: „Ich hab, was mir als wirklich galt, vergöttert“. Einer, der jetzt aufschreckt „aus dem Traumreich der Aufmotzer“. Der es nochmal – und besser – wissen will.

Zu seinen Leuten an Bord gehören neben Shakespeare unter anderen Novalis und Wolfgang Hilbig. Letztere zwei Dichter, die nicht nur „sangen“, sondern stets auch sozialbildnerisch entwarfen. Von Novalis zitiert Bartsch das 13. „Blüthenstaub“-Fragment: „Die Natur ist Feindin ewiger Besitzungen. Sie zerstört nach festen Gesetzen alle Formen des Eigentums“.

Das sind Thesen, die Bartsch mit den Kollegen der Sächsischen Dichterschule wie Adolf Endler oder Volker Braun verbindet. Sich selbst verortet der solcherart engagierte Dichter als „Niemandslandsmann“, einer, dem es heute weder um äußeren Besitz noch um Einschreibungen in ein Kollektiv geht.

Wilhelm Bartsch steht nicht nur im Ruf ein viel belesener Dichter zu sein – er stellt es auch aus. Die Fangnetze, die er auswirft, ziehen viel an zitierten Namen, Orten und Lektüren herauf. Es ist die Bartsch-typische dichte Textur an Verweisen, die den Gedichten ihre raumgreifende Weite beschert. Verdichtete Gegenwart, verdichtete Textur. Allein neun Seiten Anmerkungen bietet der Band; die sind übrigens so interessant wie die Gedichte. So erfährt man, dass der Philosoph Ernst Bloch behauptet hatte, dass der Landesname Brandenburg, die Heimat des in Eberswalde geborenen Dichters Bartsch, auf den Namen Brendan zurückzuführen sei, Brandenburg also eigentlich „Brendanburg“ ist. Oder Bartschburg, wenn man so will.

Hier klingt auch der Humor an, den der Dichter immer beweist. Dabei beherrscht Bartsch beides: die innige Zärtlichkeit und das draufgängerische Gezeter. Letzteres etwa gegen den Narzissmus einer Gesellschaft, die nur noch sich selbst bespiegelt („als Selbstvertrottler bei St. Schläulich“, also Google), deren reklame- und zweckhafte Kultur die Künste gängelt („Die Kunst, jetzt verbeamtet, ist verstummt“). Viel Elegisches ist im Spiel – wie kann es auch anders sein, wenn nicht mehr nur die Zeit, sondern inzwischen auch der Raum „verfließt“. Verse von dringlicher Einfachheit gelingen, wenn der Blick nach innen geht: „Vom Her und Hin unserer Seelen wissen / Wir wenig, nichts, was von tiefher wiegt, / Kaum von der Wolke unterm Kopf, dem Kissen, / Und wo das hinführt. Ängstigt. Selig trügt.“

Traum und Liebe

Was gibt da Halt auf hoher See? Nicht Ideologien, nicht „Uniformen, Kutten und Talare“, sondern: der Traum – und die Liebe. Beide feiert der Dichter in immer neuen Wendungen und Bildern. Und mit ihnen das Leben als stete Verwandlung – hin zum Besseren. „Und bin nicht Vater, Sohn und heiliger Geist“, sagt der Dichter, der im Reisen, im wiederholten Aufbruch, seine Freiheit findet: „Leb wohl heißt auch leb gut…“.

Buchpremiere im Literaturhaus Halle gemeinsam mit dem Schriftsteller Thomas Kunst: 29. Februar, 19 Uhr, Bernburger Straße 8. Wilhelm Bartsch: Hohe See und niemands Land. Wallstein Verlag, Göttingen, 139 Seiten, 22 Euro.