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Medien in Deutschland Diskussion in Halle: Wie die Unterschiede zwischen Ost und West erklärt werden

Im Osten werden die westdeutschen überregionalen Zeitungen kaum gelesen. Warum? Und soll das ein Problem sein? Eine Podiumsdiskussion im MZ-Haus ging dem Thema nach.

Von Christian Eger Aktualisiert: 15.10.2023, 17:03
Geteiltes Medien-Deutschland? Im MZ-Haus von links: Thomas Bille, Linda Schildbach (beide MDR Kultur), Antonie Rietzschel (Leipziger Volkszeitung) und Marc Rath (Mitteldeutsche Zeitung, Magdeburger Volksstimme)
Geteiltes Medien-Deutschland? Im MZ-Haus von links: Thomas Bille, Linda Schildbach (beide MDR Kultur), Antonie Rietzschel (Leipziger Volkszeitung) und Marc Rath (Mitteldeutsche Zeitung, Magdeburger Volksstimme) (Foto: Steffen Schellhorn)

Halle/MZ. - „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf.“ Mit diesem Slogan wirbt die Frankfurter Allgemeine Zeitung seit Jahrzehnten um Leser. Als Ostler darf man das nicht persönlich nehmen, denn offenkundig ist er nicht gemeint.

Eine 2021 von der Otto-Brenner-Stiftung veröffentlichte Studie über die Nutzung der Massenmedien in Ost und West kam zu dem Ergebnis, dass die von Westen her vertriebenen überregionalen Blätter im Osten kaum zur Kenntnis genommen werden. Gemessen an ihrer Auflage kommt die FAZ im Osten auf 3,4 Prozent, die Süddeutsche Zeitung auf 2,5, der Spiegel auf vier Prozent.

Der Osten ein Landstrich „oben ohne“? Nämlich ohne gesellschaftlich ungeteilte überregionale Medien-Präsenz? Denn das zeigen die Zahlen: Statt überregional westdeutsch, informiert sich der Osten regional ostdeutsch. Im Urteil der Studie: „Bis heute erweist sich der Osten als massenmediale Problemzone.“

Warum ist das so? Und ist das zu beklagen? Unter dem Motto „Der Osten – eine ,massenmediale Problemzone’?“ luden die Mitteldeutsche Zeitung und das Literaturhaus Halle am Mittwochabend zu einer Podiumsdiskussion ins MZ-Haus in Halle. Eine Diskussion im Zuge des halleschen Themenjahres „Streitkultur“.

Der Ossi als Jammer-Friese?

Zwei Journalistinnen und zwei Journalisten saßen vor der grünen Echtmooswand in der MZ-Kantine: Antonie Rietzschel, 1986 in Sachsen geboren, erst Reporterin für die Süddeutsche, seit 2022 für die Leipziger Volkszeitung mit dem Fokus Rechtsextremismus und -populismus. Linda Schildbach, Jahrgang 1990, aufgewachsen in Brandenburg, Thüringen-Korrespondentin bei MDR Kultur. Marc Rath, geboren 1966 in Nordrhein-Westfalen, Chefredakteur von Mitteldeutscher Zeitung und Volksstimme. Moderiert von Thomas Bille, ein Westfale von 1961, seit 1992 bei MDR Kultur.

Zwei Mal Herkunft West, zwei Mal Herkunft Ost, aber frei von DDR-Erfahrung. Ohne dass es dem Podium auffiel, bot es das Abbild einer typischen überregionalen Westredaktion: Journalisten mit erwachsener DDR-Erfahrung sind dort kaum zu finden. Warum? Sie kamen bis in die 2010er Jahre nicht durch. Vieles durfte man sein, aber nicht ostdeutsch; Ausnahmen bestätigen die Regel. Das hat Folgen: Es gibt heute überregional eine gewisse Ost-, aber kaum eine DDR-Kompetenz.

Die wird auch gar nicht mehr vermisst. Antonie Rietzschel kann ein Ost-Defizit in den überregionalen Medien nicht erkennen, denn viele Autoren ihrer um 1989 geborenen Ost-Generation fänden sich heute in den großen Blättern. Und die Vergangenheits-Aufarbeitung, sagt sie, gehe doch gerade erst los. Man hört und staunt: Seit 1990 außer Spesen nichts gewesen? Offenbar ist in Deutschland immer Stunde Null.

Dass der Mangel an medialer Ost-Repräsentation durchaus auch ein Demokratie-Defizit markiert, wurde in der Medien-Studie festgestellt – auf dem Podium nicht. Das lobt hingegen die Tugenden regionaler Berichterstattung: Unvoreingenommenheit, Genauigkeit, Nähe, Einfühlung.

„Wir können uns das Schreiben in Klischees gar nicht erlauben“, sagt Marc Rath. Und Antonie Rietzschel bekennt, dass sie nach dem Wechsel zur LVZ „stärker über das nachdenke, was ich schreibe“. Schreiben ohne Stereotype? Nicht ganz, sagt Linda Schildbach. Ihr fällt auf, dass heute das „Wohlgefühl einer Ost-Identität gestreichelt“ werde. Das sei schon eine Art Marketing.

„Sozialromantische Dinosaurier“

Das Publikum ist aufmerksam, auch wenn von Streit keine Rede sein kann. Ein Zuhörer, der sich als Ostfriese bekennt, wirft ein, dass er auch nicht darüber jammere, dass seine Heimat in der Süddeutschen kaum vorkomme. Der Ossi, ein Jammer-Friese?

Thomas Bille ist der Ost-West-Debatten überdrüssig. Wie lange, fragt er, wollen wir den Ost-West-Gaul noch reiten? So lange, wie sich die Ost-Generationen in Deutungskämpfen über DDR- und Nach-DDR gegenüberstehen, sagt Antonie Rietzschel. Was tun?

„Ich glaube, das muss sich auswachsen“, sagt die Leipzigerin. Was wohl nicht heißen soll, dass die Zeitzeugen erst verschwinden müssen? Die Rede vom „Auswachsen“ gefällt Linda Schildbach nicht: „Das Thema wird so lange da sein, wie die Menschen da sind, die die DDR erlebt haben.“

Der Osten sei misstrauisch, heißt es aus dem Publikum. Das SED-Zentralorgan Neues Deutschland sei das einzige überregionale DDR-Blatt gewesen, das man hätte lesen müssen. Vielleicht erkläre das die mediale Ost-Distanz? Von „Zwangsgebühren“ für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist die Rede. Davon, dass auch in den Regionalmedien Themen „tabuisiert“ würden. Aber, fragt Antonie Rietzschel, bei aller Kritik: Was wäre die Alternative zu den Öffentlich-Rechtlichen? Zu geprüften Nachrichten?

In der Not kehren die Menschen zu regionalen Medien zurück, sagt Marc Rath. Das sei bei der Flut so gewesen. Und den Anfängen von Corona. Thomas Bille ist da elegischer gestimmt: „Vielleicht sind wir alle, die wir hier sitzen, sozialromantische Dinosaurier?“, fragt er. Presse, Radio, Fernsehen, die klassischen alten Medien, seien doch auf dem Rückzug in den Strom der Klick-getriebenen Internet-Algorithmen.

Abschied vom Türsteher

Wo wird die LVZ, wo wird die MZ in fünf Jahren sein, will Bille wissen. Noch auf Papier oder schon ganz im Internet? Wir drucken gern, sagt Marc Rath. Das Ost-West-Thema sieht er im Stadt-Land-Konflikt verschwinden. Für ihn gelte: „Der Journalismus ist so vielfältig wie nie zuvor.“ Sie habe sich davon verabschiedet, sagt Antonie Rietzschel, dass die Journalisten „die Gatekeeper“ seien – die Türsteher, die entscheiden, wer einen Auftritt bekommt und wer nicht. „Formatvielfalt ist das Stichwort“, sagt sie. Podcast, Tiktok und Instagram seien für den Journalismus zu testen: Die Projekt- schluckt die Problemzone.