Kriminalität Kriminalität: Eltern der verstorbenen Sechsjährigen stehen vor Gericht
Halle/MZ. - Als die Helfer endlich kommen an diesem Februartag vor einem Jahr, ist alles längst zu spät. Dominic H. liegt tot in seinem Bett, auf Laken, die verkrustet sind von Erbrochenem, in einem Kissen, über das schwarze Käfer wuseln, in einem Zimmer, das vor Schmutz starrt inmitten einer Wohnung, die pikobello aufgeräumt ist.
Fast auf den Tag genau ein Jahr danach schiebt sich seine Mutter blind durch den Flur des Landgerichtes in Halle. Ines H. hält sich eine Zeitung vor das Gesicht, um nicht in die Kameras schauen zu müssen. Rüdiger-Harri H. hingegen, 43 Jahre alt, von Beruf Polizist, wie seine Frau seit August 2003 in Untersuchungshaft und wie sie angeklagt des Totschlags durch Unterlassung an Dominic, drückt die Schultern durch. Er schaut aus blauen Augen in die hektische Runde aus Fernsehteams und Fotografen. Ich, so sagt es seine Körpersprache, verstecke mich nicht.
Allerdings sagt Rüdiger-Harri H. auch nichts an diesem ersten Tag im Prozess wegen des unnatürlichen Todes seines Sohnes. Nicht zu seiner Frau, die in einer Verhandlungspause mit rotgeschwollenen Augen zu ihm schaut und flüstert. Und auch nicht zum Gericht.
So ist es an Staatsanwalt Michael Thiel, auszuführen, was nach Ansicht der Staatsanwaltschaft vor Dominics Tod geschehen ist in der sanierten Neubauwohnung am ruhigen Westrand von Halle-Neustadt, wo die Familie H. still und unauffällig lebte. Dominic, das dritte gemeinsame Kind des Paares, ist von Anfang an kein Glückskind: Durch Sauerstoffmangel bei der Geburt hat der Junge einen Hirnschaden erlitten, die ersten vier Wochen seines Lebens verbringt er im Krankenhaus, danach wird er wegen seiner häufigen epileptischen Anfälle ständig vom Kinderarzt betreut.
Bis zu dem Tag, an dem Ärztin und Eltern sich über etliche offene Behandlungs-Rechnungen nicht einig werden können. "Sie beschlossen daraufhin, keinen Arzt mehr aufzusuchen", beschreibt Staatsanwalt Michael Thiel. Die Anfälle, die vor allem auftreten, wenn der kleine Dominic von seiner Mutter gefüttert wird, sollen nun durch eine Umstellung der Ernährung im Zaum gehalten werden. "Die Mutter war der Ansicht, dass das gelungen ist", schildert Thiel, und Ines H. gegenüber in der Anklagebank senkt den Blick. Dominic, habe die heute 40-Jährige in den Vernehmungen ausgesagt, hätte zu dieser Zeit nur noch zweimal am Tag einen Krampf gehabt. Doch der Junge bleibt zurück. Die Entwicklungsdefizite ihres Jüngsten müssen den Eltern irgendwann aufgefallen sein - doch sie glauben, nicht mehr zum Arzt gehen zu können mit ihm.
"Aus Furcht", heißt es in der Anklageschrift, "dass ein Mediziner die Vernachlässigung feststellen könnte." Es steht offenbar zu viel auf dem Spiel. Karriere, guter Ruf. So hätten die Eltern ihr Kind dahinvegetieren lassen, glaubt der Staatsanwalt. Dominic ist da, aber er ist auch nicht da, er gehört dazu, aber er gehört auch nicht dazu. Nachbarn erinnern sich später, den Jungen nur ein einziges Mal auf der Straße gesehen zu haben, dabei seien H.s oft in ihrem Garten gewesen. Doch niemand denkt sich etwas, niemand fragt, niemand wundert sich. Die Familie wohnt noch nicht lange im Viertel, die Bindungen unter den Nachbarn sind nur locker.
Es gibt keinen Grund, ein dunkles Geheimnis hinter der Wohnungstür mit dem Namen H. zu vermuten, hinter der Ines H. um 7.30 Uhr am 3. Februar 2003 zum letzten Mal versucht, ihren Jüngsten zu füttern. Doch Dominic hat einen Anfall. Er muss ins Bett. Vier Stunden später findet die Mutter ihn leblos. Mittags stellt der Notarzt den Tod des Jungen fest. Dominic ist sechs Jahre alt und 99 Zentimeter groß. Er wiegt 9,3 Kilogramm.