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Interview mit Sexualwissenschaftlerin Interview mit Sexualwissenschaftlerin: Gewalt von Frauen an Männern unterschätzt

12.09.2014, 04:46
Männer sollten nicht die Schuld auf sich nehmen, wenn Frauen ihnen gegenüber handgreiflich werden.
Männer sollten nicht die Schuld auf sich nehmen, wenn Frauen ihnen gegenüber handgreiflich werden. (Symbolbild) dpa-tmn Lizenz

Merseburg - Experten warnen vor einer Bagatellisierung von Gewalt und sexuellen Übergriffen, die von Frauen ausgehen. Erwachsene Männer können auch Betroffene häuslicher Gewalt werden, sagt die Sexualwissenschaftlerin Astrid Herrmann-Haase im Interview mit der Nachrichtenagentur dpa.

In der Öffentlichkeit kommen Frauen als Täterinnen bei sexueller Gewalt eigentlich nicht vor. Entspricht das der Realität?

Herrmann-Haase: Es ist tatsächlich so, das zeigen bisherige Forschungen: Frauen existieren als verurteilte Sexualstraftäterinnen kaum. Die polizeiliche Kriminalstatistik zum Beispiel gibt kaum etwas her, aber es gibt mit Sicherheit eine sehr große Dunkelziffer. Denn aus unserer therapeutischen Praxis und der quantitativen Forschung wissen wir, auch Frauen, darunter Ehefrauen, Mütter und Großmütter, können gewalttätig werden und Grenzen verletzen. Sie werden aber nicht so wahrgenommen. Für die Gesellschaft gibt es eigentlich nur den klassischen männlichen Täter. Einer Frau wird nicht zugetraut, dass sie auch vergewaltigen und sexuell übergriffig werden kann.

Die Sexualwissenschaftlerin Astrid Herrmann-Haase (27) arbeitet in Magdeburg als Therapeutin mit jungen Menschen, die zu Sexualtätern wurden. Wissenschaftlich beschäftigt sie sich mit sexuell gewalttätigen Frauen. Im Landesverband Sachsen-Anhalt der Organisation pro familia ist Herrmann-Haase als stellvertretende Vorstandsvorsitzende tätig.

Aber genau das passiert?

Herrmann-Haase: Insbesondere sexuelle Übergriffe von Frauen an Männern oder Jungs sind hochgradig stigmatisierte und tabuisierte Themen. Ein erwachsener Mann, der sich von einer Frau sexuell missbrauchen lässt - ich sage das jetzt mal bewusst so - wirkt für die Gesellschaft leider so, als würde er sich missbrauchen lassen, als würde er das wollen und es doch gut finden müssen. Fakt ist, dass Männer oder auch Jungen sehr darunter leiden, dass sie keine geeignete Therapie bekommen, weil sie nicht als Betroffener sexueller Gewalt durch eine Frau gesehen werden, sich selbst womöglich auch gar nicht so sehen und sich auch dafür schämen. Da braucht es noch sehr viel Aufklärung und mehr Hilfsangebote.

Welche Rolle spielt dabei das althergebrachte Bild des starken Mannes, womöglich auch des Machos, in der Gesellschaft?

Herrmann-Haase: Eine sehr große Rolle. Männer sollen stark und fähig sein. Männer bestimmen über Sex und dessen Grenzen. Zum Beispiel endet bei heterosexuellem Kontakt der Geschlechtsverkehr immer noch häufig, wenn der Mann einen Orgasmus hat - die Lust der Frau bleibt außen vor und wird übergangen. Daher bewerten Männer oft sexuell grenzverletzende Situationen ausgehend von Frauen auch anders. Männer haben eine sehr große Hemmschwelle, sich als Betroffene sexueller Gewalt zu outen, sogar Fachleuten, Therapeuten gegenüber. (dpa)