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Hilfe für Flüchtlinge in Quedlinburg Hilfe für Flüchtlinge in Quedlinburg: Aus dem Ehrenamt wurde ein Job

Von Katrin Löwe 11.10.2015, 20:32
Anne Fuhrmann in ihrem Büro. Dort stapeln sich noch die Spenden für die Flüchtlinge.
Anne Fuhrmann in ihrem Büro. Dort stapeln sich noch die Spenden für die Flüchtlinge. Andreas Stedtler Lizenz

Quedlinburg - Flüchtlinge. Das war für Anne Fuhrmann bis vor kurzem noch ein Thema, das ausschließlich in den Medien eine Rolle spielte. Natürlich hat sie darüber gelesen, hat Nachrichten geschaut. Sie war interessiert an dem, was da passiert in Deutschland. „Aber so richtig kam das hier für mich noch nicht an.“ Das war vor gut vier Wochen. Seitdem hat sich das Leben der 31-jährigen Quedlinburgerin nahezu komplett verändert. Mitte September wurde in Quedlinburg eine Außenstelle der Halberstädter Zentralen Anlaufstelle für Asylbewerber (Zast) eröffnet.

Heute sitzt Anne Fuhrmann im Gemeindehaus der evangelischen Kirche und erzählt von diesen zwei unterschiedlichen Welten. Von der Stadt, die lebt, und den Flüchtlingen, die „darauf warten, dass sie wieder leben können.“ Sie berichtet von dem 23-jährigen Syrer, dessen Haus bombardiert wurde, der selbst eine schwere Verletzung am Bein erlitt. Oder von der Familie mit den zwei kleinen Kindern, deren Mutter nicht mehr lebt. Zwei syrische Familien, die derzeit in Quedlinburg untergebracht sind, haben inzwischen ihre Telefonnummer. Schon morgen könnte es sein, dass sie auf einen der Landkreise in Sachsen-Anhalt verteilt werden. „Mir ist wichtig, was aus ihnen wird“, sagt Fuhrmann. Die Flüchtlinge, die sie meist Gäste nennt, weil das für sie einfach freundlicher klingt, „sind in meinem Leben angekommen.“ Fuhrmann hat sie auch hereingelassen: Sie hat sich ehrenamtlich teilweise bis tief in die Nacht hinein für sie engagiert, inzwischen hat sie sogar einen Job in diesem Bereich.

Ein Zwölf-Stunden-Tag

Dass das so ist, hängt auch mit einer Freundin zusammen, von der Fuhrmann Anfang September gefragt wurde, ob sie mit zum Runden Tisch Flüchtlingshilfe kommt. Kurz nach der Nachricht, dass in Quedlinburg die Zast-Außenstelle entsteht, hatte der sich aus Stadt, Kreis, Wohlfahrtsverbänden, Kirche, Parteien und engagierten Bürgern gebildet. Fuhrmann ging mit - wollte sich eigentlich nur informieren. Und hob doch die Hand, als jemand gesucht wurde, der die Spendenannahme durch Ehrenamtliche managt. Und noch einmal, als es um die Koordinierung weiterer freiwilliger Angebote ging.

„Ich hab mir keine Gedanken gemacht, wie umfangreich das wird“, sagt sie heute und lächelt. Nach fast vier Jahren zu Hause - 2012 und 2014 sind ihre eigenen Kinder geboren - habe sie wieder etwas tun, ihren Horizont erweitern wollen. „Und wenn ich dabei noch helfen kann...“

Am 15. September kamen die Flüchtlinge. Fuhrmann war zunächst ehrenamtlich aktiv, teilweise zehn, zwölf Stunden am Tag, aber auch mal von 9 Uhr bis Mitternacht. Während zu Hause ihr Mann in der Kinderbetreuung einsprang - „vor ihm ziehe ich den Hut“ - ist sie oft in der ehemaligen Gartenbaufachschule gewesen, in der nun fast ausschließlich Syrer leben. Sie hat anfangs die Unterbringung und Essensausgabe mit gemanagt. Und sich darum gekümmert, wo welcher Bedarf für Hilfe besteht.

„Festes Schuhwerk“, sagt sie zum Beispiel, „das ist jetzt wirklich notwendig.“ Also ist sie spätabends noch zwei Stunden durch die Räume der Flüchtlinge gegangen, um Schuhgrößen zu notieren und entsprechend Spenden koordinieren zu können. Obst wurde zwischenzeitlich gesucht. Mit Erfolg: „Es gibt viele Menschen, die kiloweise Äpfel und Birnen bringen.“

„Wir mussten etwas tun“

Fuhrmann ist zwischen Zast, Caritas und Ehrenamt die Schnittstelle für etliche Organisationsaufgaben: auch dafür, dass Helfer die Flüchtlinge bei Arztbesuchen begleiten, dass mittlerweile ein täglicher Deutschunterricht abgesichert ist. Oder dafür, dass Fahrradspenden vermittelt werden. Die Quedlinburgerin macht kulturelle Angebote wie Feste oder Konzerte unter den Flüchtlingen publik - sie übersetzt sie ins Englische, eine Syrerin zudem ins Arabische.

Rund 20 Ehrenamtliche sind derzeit ständig aktiv, sagt die 31-Jährige, insgesamt 200 hat sie in ihrer Liste verzeichnet. Und dabei sind Familien wie die, die gerade angeboten hat, bei einem Ausflug in den Kletterpark auch Flüchtlinge mitzunehmen, noch nicht einmal drin. Abends, wenn die Kinder im Bett sind, hat sie oft noch Mails abgearbeitet - mal fünf, mal 20 am Tag.

Im Gemeindehaus wird jetzt ein Büro für die 31-Jährige eingerichtet. Seit dem 1. Oktober ist sie offiziell bei der Evangelischen Stiftung Neinstedt angestellt - für das, was sie bisher ehrenamtlich gemacht hat. „Wir mussten etwas tun“, sagt Stiftungssprecher Christian Mühldorfer-Vogt. Ohne Ehrenamt geht es nicht, aber nur im Ehrenamt sei das Pensum nicht lange zu stemmen. Und Fuhrmann, gelernte Bürokauffrau, war Monate vor dem Ende der Elternzeit ohnehin auf Jobsuche. Vorerst für ein Jahr finanzieren die Stadt Quedlinburg, die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands und die Stiftung Neinstedt die 25-Stunden-Stelle.

Die Entscheidung dafür, sagt Mühldorfer-Vogt, kam schneller als die Büroeinrichtung. Noch stehen in dem Raum im Gemeindehaus nur zwei Tische und ein paar Stühle. Daneben stapeln sich derweil säckeweise vor allem Kleiderspenden. „Das ist wirklich toll“, sagt der Stiftungs-Sprecher. Tageweise habe man nicht einmal die Tür schließen können. Auch Geschäftsleute zogen mit - spendeten einen Riesensack Kindersocken oder jetzt die Ausrüstung, die einigen Flüchtlingen die Teilnahme am Brockenlauf ermöglichte.

Integration als nächste Ziel

Manches in ihrer Arbeit, weiß Fuhrmann, muss sich noch einspielen, wird sich entwickeln. Sie hat viel vor. Die Integration soll stärker in den Fokus rücken, sobald Flüchtlinge länger im Harz bleiben. Eine Begegnungsstätte schwebt ihr vor, die Suche nach Paten. Sie selbst lernt inzwischen sogar ein bisschen Arabisch. Die Syrer, sagt sie, begegnen ihr freundlich und mit Respekt - „auch wenn ich kein Kopftuch trage“. Manche von ihnen bezeichnen sie schon als „ihren Engel“. Zu viel der Ehre, glaubt die 31-Jährige. „Ich mache doch nichts Wahnsinniges.“ (mz)