Harz-Reise Harz-Reise: Nachts auf Entdeckungstour
Quedlinburg/MZ. - Wenn die Sonne hinter den Fachwerkhäusern verschwindet, bricht in Quedlinburg die Zeit der Nachtwächter an. In früheren Jahrhunderten schlenderten die Männer in der Dunkelheit einsam durch die Straßen. Heute haben sie regelmäßig eine Schar Touristen im Schlepptau. Seit zehn Jahren schlüpft Stadtführer Rüdiger Mertsch in die Rolle des Hobby-Nachtwächters. In der einen Hand hält er eine Laterne, in der anderen eine Hellebarde. Dunkelgrün ist sein Loden-Umhang. "Der ist wasserdicht", sagt er zufrieden, "nur der Filzhut wird im Regen schwer wie ein Stahlhelm". Zum Glück ist es trocken.
Dieses Mal kommen die Nachtwanderer aus Köln und Umgebung. Es sind die Teilnehmer der Leserreise des Kölner Stadt-Anzeigers. Vier Tage dauert der Abstecher an den nördlichen Rand des Harzes. Wegen der großen Nachfrage hat eine zweite Gruppe bereits eine Woche zuvor die Reise angetreten. Insgesamt 90 Leser haben sich Zeit genommen, um die Sehenswürdigkeiten von Quedlinburg, Gernrode, Halberstadt, Blankenburg und Wernigerode zu entdecken.
Der wilde Wein, der an der Renaissance-Fassade des Quedlinburger Rathauses emporklettert, beginnt sich in ein dunkles Rot zu verfärben. Es dämmert bereits. Rüdiger Mertsch hat jetzt Zeit für Anekdoten. Zum Beispiel über die Straßennamen, die alle mit einem quadratischen weißen Punkt enden. "Das geht auf frühere Rechtschreibregelungen zurück. Und die Drucktechnik ließ damals nur eckige Punkte zu", erklärt er. Noch heute haben alle Straßenschilder den eckigen Punkt, nur an der Straße "Die Hölle" nicht. "Das Schild ist mal geklaut und dann erneuert worden. Die Stadtverwaltung hat einfach gepennt", sagt Mertsch und führt die Besucher weiter durch die verwinkelten Gassen der 1 300 Fachwerkbauten. Seit 1994 gehört die Altstadt zum Unesco-Weltkulturerbe und bildet zugleich das flächenmäßig größte deutsche Denkmal.
Am zweiten Tag geht es mit der Eisenbahn auf den Brocken. Laut Statistik herrscht dort nur an 60 Tagen im Jahr gute Sicht. Heute ist solch ein Tag. "Wir sind zwar schon um sechs Uhr aufgestanden, aber für diese Fernsicht hat es sich gelohnt", sagt Helmut Hack. Die andere Reisegruppe aus Köln hat nicht so viel Glück. Bei ihrem Besuch liegt der 1 142 Meter hohen Brocken in dichtem Nebel.
In Gernrode herrscht häufiger gute Sicht. Das Ziel der meisten Stadtbesucher ist die Kirche Sankt Cyriakus. Bereits im Jahre 959 wurde auf Veranlassung des Markgrafen Gero mit dem Bauwerk begonnen. Bis vor zwei Jahren wurde die Westapsis aufwändig restauriert - das immense Deckenmosaik wirkt wie frisch verlegt. Es zeigt Jesus mit seinen Jüngern. "Absolut eindrucksvoll", findet Helmut Hack. "Der Osten gehört zu uns, aber man kennt doch wenig", sagt der 66-jährige Kölner. Ein bisschen ist es auch eine Entdeckungsreise.
Einige Reisende kennen Quedlinburg noch von früher. Für manche war es Heimat, für andere Urlaubsziel. Eine ältere Frau aus Köln-Ehrenfeld ist dort aufgewachsen. "Zu DDR-Zeiten war der Ort runtergekommen. Es ist zwar viel gemacht worden, trotzdem muss noch einiges geschehen", sagt sie. Von ihrem Zimmer im Hotel Quedlinburger Stadtschloss blickt sie auf ein verfallenes Fachwerkhaus. Nicht das einzige im Ort. Zum Teil stehen renovierte und vom Einsturz bedrohte Häuser Wand an Wand. Ein Zeichen der Abwanderungswelle, die nach der Wiedervereinigung eingesetzt hat. Früher hatte die Stadt 32 000 Einwohner, geblieben sind knapp 23 000 Menschen. Jeder Vierte ist arbeitslos.
Im Schloss thronte einst König Heinrich I. Sein Grab befindet sich in der Stiftskirche Sankt Servatius, einem romanischen Bauwerk mit zwei Türmen. "In Quedlinburg hätte man noch mehr Zeit verbringen können", sagt Brigitte Mengelberg aus Steinfeld in der Eifel. Sie will wiederkommen und den Harz durchwandern. Nicht unbedingt im Dunkeln, denn das ist in Quedlinburg Sache der Nachtwächter.