Harz Harz: Eine Tour auf den Spuren von Goethe
SCHIERKE/MZ. - Der Brocken lag in tiefem Nebel, als der Dichter am Morgen des 10. Dezember 1777 inkognito gen Gipfel stieg. Als "Maler Weber" gab sich der 28-Jährige aus. Johann Wolfgang Goethe, damals noch nicht geadelt, hatte den ortskundigen Förster von Torfhaus überredet, ihn von dort aus auf den höchsten Berg des Harzes zu begleiten. Im Schnee, der laut Goethe "eine Elle tief" war, aber auch trug.
Kein ungefährliches Unterfangen zu jener Zeit: "Der Brocken war damals im Winter für Normalwanderer kaum zu bewältigen", erzählt Gerda Nell heute. Schließlich war er touristisch noch völlig unerschlossen. Für Goethe ein reizvolles Abenteuer - steckte er selber doch damals in einer Sinnkrise. "Er wollte sich selbst finden", vermutet die Frau aus Schierke, die seit zehn Jahren Waldführerin im Nationalpark Harz ist.
Heute weist ein schwungvolles "G" dem Wanderer vom niedersächsischen Torfhaus aus den berühmten Goetheweg. Auf der rund acht Kilometer langen Strecke geht es hinauf auf den Brocken. Ein leichter Aufstieg, sagt Gerda Nell, die ihn bereits unzählige Male gegangen ist. "Etwa 330 Meter Höhenunterschied sind zu überwinden." Das ist in gut zwei Stunden geschafft. Denn anders als Ende des 18. Jahrhunderts muss heute niemand mehr durch unwegsames Gelände kraxeln. Im Gegenteil: Da der Weg durch die besonders geschützte Kernzone des Nationalparks führt, ist dies sogar untersagt. Rund 200 000 Menschen nutzen die Wanderroute laut Nationalparkverwaltung jährlich.
Jetzt, da der Frühling - wenn auch deutlich langsamer als im Tal - Einzug hält, beginnt seine Hauptsaison. Die Sonne bringt unter der dünnen Schneeschicht links und rechts vom Weg weite Moorflächen zum Vorschein. Mit jedem Tag wird die wild-romantische Pracht nun sichtbarer, die Jahr für Jahr so viele Naturfreunde anzieht - und einst auch Goethe beeindruckt hat: neben dem Hochmoor die Moose und Flechten, Torflager, Granitklippen, Heiden und die typischen Harzkräuter. Immer wieder geht es durch dichte Fichtenwälder. "Hinter jeder Kurve gibt es hier Neues zu entdecken", sagt Gerda Nell. Von Zeit zu Zeit lässt sich ein Blick auf den Gipfel mit Sendeturm und Brockenhaus erhaschen.
"Das Naturerleben und der sanfte Tourismus sind natürlich die Schwerpunkte des Nationalparks", sagt dessen Sprecher Friedhart Knolle. Doch: "Das Interesse für historische Themen im Harzer Tourismus nimmt deutlich zu." Das Thema Goethe und seine Wanderungen sei dafür ein treffendes Beispiel. Ob es sich bei dem Goetheweg jedoch tatsächlich um die Originaltour Goethes bei seinem ersten Brockenaufstieg handelt, kann heute niemand genau sagen. Da er von Torfhaus aus startete, ist dies gut möglich. Doch der wanderenthusiastische Dichter, der dem Brocken später im "Faust" mit der Walpurgisszene ein literarisches Denkmal setzte, hat die Route nicht näher beschrieben.
Der Goetheweg ist auch ein Beispiel dafür, wie in besonders geschützten Gebieten zwischen Tourismus und Naturschutz Kompromisse gefunden werden müssen. Als sich bereits kurze Zeit nach dem Mauerfall ein Besucheransturm auf den Brocken abzeichnete, wurde der Pfad zu dem 1 142 Meter hohen Berg als "Neuer Goetheweg" eröffnet. "Die Wanderer sollten zum Gipfel gelenkt werden, um die Natur trotz der Massen so weit wie möglich zu schonen", erzählt Waldführerin Gerda Nell. Auf den letzten Kilometern wurden sie fortan parallel der Schmalspurbahn-Strecke zur Brockenstraße geführt. Im Winter jedoch konnte dieses Stück Weg nicht geräumt werden, weswegen viele Wanderer auf den Gleisen liefen.
Seit einigen Monaten kann der Goetheweg nun ganzjährig bewandert werden. Die Strecke neben den Gleisen ist nach einem zweijährigen Ausbau drei Meter breit und damit auch für Räum- und Rettungsfahrzeuge erreichbar. Im Vorfeld waren die Pläne kontrovers diskutiert worden: Was für die einen eine Verbesserung der Wanderbedingungen bedeutete, nannten andere schlicht einen Frevel an der Natur. "Es war eine Vernunftentscheidung", sagt Nationalpark-Revierleiter Olaf Eggert. Die Sicherheit der Brockenwanderer sei der ausschlaggebende Punkt gewesen. "Der Weg wird dem gerecht, was da oben los ist." Gebaut wurde möglichst naturverträglich.
Auf der Brockenkuppe angekommen, erlebt - wer Glück hat - ein Schauspiel wie einst Goethe. "Als er auf dem Gipfel stand, lag unter ihm ein Wolkenband" erzählt Nell. "Doch oben war schönster Sonnenschein." Später schrieb der Dichter: "Heitrer herrlicher Augenblick, die ganze Welt in Wolken und Nebel und oben alles heiter." Seine Sinnkrise, sagt man, sei sofort vergessen gewesen.