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Geschichte Geschichte: Der letzte Sommer der DDR

Von Steffen Könau 18.08.2015, 15:35
Am 28. August 1990 besuchte Helmut Kohl Halle, wo den Einheitskanzler eine begeisterte Menschenmenge empfing.
Am 28. August 1990 besuchte Helmut Kohl Halle, wo den Einheitskanzler eine begeisterte Menschenmenge empfing.  Fotos (2): Wolfgang scholtyseck Lizenz

Leipzig/Halle (Saale) - Atemberaubend, wie das alles zusammenpasst. Das Wetter, der Ort, die Menschen. Sogar der Titel der Platte, die die britische Band The Cure an diesem Augusttag des Jahres 1990 vor dem Leipziger Zentralstadion vorstellt, atmet Historie: „Disintegration“, auf Deutsch Auflösung, hat Sänger Robert Smith das Werk genannt.

Im Zustand der Auflösung ist auch das Land, das der unter einer Mähne aus Wuschelhaar versteckte Musiker an diesem Tag zum ersten und letzten Mal besucht. Die DDR steht acht Wochen vor ihrem Ende, ein letzter Tanz noch auf dem inzwischen erloschenen Vulkan der friedlichen Revolution vom Herbst ’89. Der Sommer 1990 ist eine Zeit des Abwartens, eine Zwischenwelt, von der Smith an diesem Abend in seinem Song „In between Days“ erzählt. „Geh’, die Wahl ist getan“, heißt es da, als wäre die DDR gemeint, „nun geh’ und verschwinde schon.“

Der Sänger und Gitarrist Ivo Pötzsch denkt ja gar nicht daran. Für den Chef der halleschen Band The Next bringt die Abenddämmerung der DDR einen Karrierehöhepunkt. The Next treten in Leipzig als Vorband der Weltstars von The Cure auf. „Ein unvergessliches Erlebnis“, erinnert sich Pötzsch, „auf diese riesige Bühne zu kommen und vor sich dieses Meer aus Schwarzgekleideten zu sehen.“

Vor 20.000 Leuten bestehen

Es ist brütend heiß, Feuerwehrwagen kühlen die Menge notdürftig ab. „Aber es war nicht so, dass wir dachten, jetzt werden wir Superstars“, beschreibt Ivo Pötzsch. Er sei ebenso wie sein Bandkollege Christian Kautz „sehr realistisch“ an die vielen Versprechen herangegangen, mit denen Manager aus dem Westen in der untergehenden DDR hausieren. „Die haben jedem alles gesagt, was er hören wollte.“

Dass sie, die kleine Band aus Halle, vor den Weltstars spielen dürfen, und nicht irgendeine viel bekanntere Gruppe aus Berlin, hat ja auch nur einen ganz bestimmten Grund. „Robert Smith wollte niemanden, der deutsch singt, aber es musste auch eine Band sein, die vor 20 000 Leute bestehen kann.“

So werden Träume wahr, in diesem Sommer zwischen Währungsunion und Einheit, in dem viele Ostdeutsche zum ersten Mal Urlaub im Westen machen oder die vertrauten Reiseziele im Osten mit Westgeld in der Tasche neu entdecken. In Ungarn sind aus den Gästen zweiter Klasse plötzlich begehrte Besucher geworden, die nicht nur von mitgebrachter Hartwurst leben. In Prag kostet das Bier kaum noch etwas. Und während die traditionellen ostdeutschen Feriengebiete vor Leere gähnen, bestaunen Österreich, Dänemark, Frankreich und Italien ganze Heerscharen einfallender Noch-DDR-Bürger in Schnee-Jeans und weißen Knöchelturnschuhen.

Wie Helmut Kohl in Halle empfangen wird, lesen Sie auf Seite 2.

Die Angst vor der Zukunft, die seit Monaten umgeht und mit jeder neuen Entlassungswelle in den volkseigenen Betrieben wächst, ist im Windschatten der D-Mark-Einführung für einen Moment verdrängt. Dabei ist es das Chemiedreieck der DDR, in dem in diesen Tagen und Wochen die Öfen ausgehen. Noch wird über den genauen Termin der beschlossenen Vereinigung beider deutscher Staaten verhandelt, da ist schon knapp ein Viertel der 900.000 Erwerbstätigen im Gebiet des alten Bezirks Halle ohne Beschäftigung. 30.000 sind offiziell als Arbeitslose registriert, 200.000 arbeiten kurz. Unzählige mehr haben zwar offiziell noch ihre alte Stelle und bekommen auch Gehalt, so dass die Arbeitslosenquote noch unter vier Prozent liegt. Doch Arbeit ist nicht mehr da, weil die Menschen in Genthin, Weißenfels, Halle und Staßfurt sich strikt weigern, Waschmittel aus Genthin, hallesches Meisterbräu-Bier, Weißenfelser Schuhe oder Fernseher aus Staßfurt zu kaufen.

Der Beliebtheit von Helmut Kohl tut das keinen Abbruch. Als der Einheitskanzler Ende August zum ersten Mal nach Halle kommt, um ein Ausbildungszentrum zu eröffnen, empfangen ihn 20.000 Menschen. Die meisten von ihnen sind zum Jubeln herbeigeeilt. Aber auch die zur PDS gewandelte ehemalige Staatspartei SED hat ihre Anhänger aufgefordert, „Herrn Kohl für alles zu danken: für Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit, gestiegene Preise und bankrotte Betriebe“.

Eier und Kohlköpfe fliegen

Welten treffen aufeinander, die neue DDR begegnet dem alten Deutschland. „Runter mit der Spalterflagge“, schreit ein Mann, als junge Leute eine DDR-Fahne in Kohls Blickrichtung recken. Fliegende Tomaten, Eier, Kohlköpfe dann, als Kohl ans Mikrophon tritt, begleitet von „Helmut, Helmut“-Chören der einen und „Kohl-raus“-Rufen der anderen Seite.

Alle Geschosse verfehlen ihn, die Fäuste seiner Fans aber finden die Werfer. Kohl selbst wirbt für ,,mehr Mut angesichts der bevorstehenden ,,historischen Stunden“. Unverantwortlich handele, wer ,,wie ein Buchhalter“' immer nur von den Kosten der Einheit spreche. Zwar wolle auch er nicht verschweigen, dass die Talsohle noch vor dem „0stteil unserer deutschen Heimat“ liege. Aber das sei kein Grund, durch „Panikmache“ die Zukunft zu gefährden. „Wohlstand für alle“, sagt Kohl, sei möglich, wenn jeder „die Zukunft in die eigenen Hände nehme“.

Gerangel und Geschubse unten, Polizeiketten und Handgemenge, während Kohl sich oben direkt an die „Vertretern des politischen Pöbels“ wendet, wie er sagt. „Wir sind hier in Deutschland“, befindet er, ,,hier entscheidet nicht die Straße“.

Eine Erfahrung, die die Menschen im künftigen Bundesland Sachsen-Anhalt im Streit um die Hauptstadt des neuen, alten Landes zum ersten Mal machen werden. Halle, bis 1952 Hauptstadt, sieht sich als einzigen Kandidaten für den Sitz der neuen Landesregierung. Formaljuristisch betrachtet sei man immer noch Landeshauptstadt, denn die Existenz des Landes Sachsen-Anhalt sei doch rechtlich nie aufgehoben worden, heißt es. Und zudem: Der Süden ist dichter besiedelt, die Uni ist älter, die Innenstadt viel schöner! Eigens hat man doch zudem im Mai die eigenständige Neubausiedlung Halle-Neustadt mit ihren 90.000 Einwohnern eingemeindet. ,,Mein Herz für Halle“ sagt da selbst Hans-Dietrich Genscher und stellt sich „an die Seite der Landsleute in meiner Heimatstadt“.

Wie alles ganz anders kam, lesen Sie auf Seite 3.

Für die Hallenser gibt es keinen Zweifel, dass es gar keinen Streit um die Hauptstadtfrage geben dürfte, weil nur eine Entscheidung möglich ist. Doch dann kommt alles anders. Auf einmal werden Stasi-Vorwürfe gegen Oberbürgermeister Peter Renger (CDU) laut, der eben noch neben Helmut Kohl auf der Tribüne gestanden hatte und gefeiert worden war.

Aus dem Rathaus kommt nun nichts mehr. Und Dessau, über all die Jahre der DDR von Halle aus mitregiert, wendet sich ab. „Wir fühlten uns immer als das fünfte Rad am Wagen der Bezirksstadt Halle“, erinnerte sich der damalige Dessauer OB Jürgen Neubert (FDP) später. Magdeburger Emissäre versprechen, dass es so nie wieder sein wird, wenn nur die Dessauer Stimmen an die Elbe gehen. Und in Hinterzimmern werben auch die Berater aus Niedersachsen für Magdeburg als Regierungssitz. Die Fahrzeit nach Hannover und Braunschweig sei einfach kürzer.

Der Zusammenbruch

Weit weg ist das für viele, die zusehen müssen, in einer neuen Welt zurechtzukommen, die noch kaum richtige Regeln hat. Die in der DDR stets präsente Polizei hat allen Respekt verloren. Behörden existieren, aber sie funktionieren nicht mehr. Die meisten Betriebe hängen am Tropf der Treuhand, die jeden Monat mehr als eine Milliarde Mark an Liquiditätskrediten allein in den Bezirk Halle pumpt.

Auch eine Wanderausstellung der Ludwig-Ehrhard-Stiftung zu den „Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft“ im halleschen Stadthaus hilft wenig gegen die sozialen Tragödien, die Abstiegsängste, die Dramen. Im Arbeitsamt Bitterfeld droht eine Frau mit Selbstmord, in Halle zieht ein Arbeitsloser aus Unmut über die langen Schlangen ein Messer.

Die Wirklichkeit ist zweigeteilt. Während die Gewerbeämter von einem „Boom“ mit 50 bis 100 Neuanmeldungen pro Woche berichten, demonstrieren auf dem Markt Bauern unter dem Motto „Stirbt der Bauer, stirbt das Volk“. Während Theater endlich spielen dürfen, was sie wollen, machen Künstler mit einem symbolischen „Löffelabgeben“ auf die Misere eines drohenden „Kulturkollapses“ aufmerksam. Und in das Glück, mit den erstmals zugestellten Rentenbescheiden endlich Sicherheit über die künftige Rentenhöhe zu bekommen, mischt sich nach den ersten Mieterhöhungsankündigungen bei vielen Empfängern die Furcht davor, sich die eigene Wohnung bald nicht mehr leisten zu können.

Es ist der letzte Sommer der DDR, eine Zeit zwischen den Zeiten. Auch in Leipzig, wo die Fans ihre Lieblingsband feiern, fliegen plötzlich Steine und Flaschen. 50 Rechtsradikale drängen durch die Absperrungen. Ordnungskräfte heben hilflos die Hände. Die Volkspolizei kommt im Laufschritt. Zu spät. Und noch ein wenig später macht Robert Smith das Licht aus. Das erste und letzte große Open Air-Konzert der DDR außerhalb Berlins ist vorüber. Der letzte Tanz in Freien ist vorbei. (mz)

The Cure in Leipzig
The Cure in Leipzig
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