Geistesblitz im Geiseltal Geistesblitz im Geiseltal : Kommt der Erfinder des Laufrades aus Braunsbedra?

Braunsbedra - Große Holzräder, beschlagen mit einem schmalen Metallstreifen, rattern über die Straße am Rathaus. Schon aus der Ferne klingt das quietschende Geräusch, das an eine alte Kutsche erinnert. Doch statt vier Räder genügen Frank Hoffmann aus Braunsbedra (Saalekreis) zwei Wagenräder, um mit Hilfe seiner kräftigen Waden voran zu kommen.
Der 59-Jährige, 1,86 Meter groß, gilt in seinem Heimatort als Laufrad-Fahrer aus Leidenschaft. Bequem ist das über 250 Jahre alte Gefährt zwar nicht, aber das von ihm erreichte Tempo kann durchaus mit vielen modernen Fahrrädern mithalten.
Soviel Ehrgeiz besitzt Hoffmann schon, stammt der umtriebige Chronist doch aus genau jenem Ort, wo der Überlieferung nach 1761 das erste Laufrad der Welt unterwegs gewesen sein soll. Und der Braunsbedraer ist wie die insgesamt 40 Mitglieder des Heimatvereins überzeugt, dass die Welt einem Stellmacher aus dem früheren Ortsteil Braunsdorf - Michael Kaßler (1733-1772) - die bahnbrechende Erfindung zu verdanken hat. Einiges spricht dafür, anderes muss noch erforscht werden. Der letzte Beweis fehlt noch.
Nur eine historische Fußnote
In Braunsbedra rennt der gelernte Schlosser mit seiner Leidenschaft für Kaßlers Erfindung offene Türen ein. Doch im Almanach der Radgeschichte spielt die Erfindung bislang nicht die Hauptrolle, erscheint eher als historische Fußnote. „Ob Geburts- oder Todestag - immer wieder lese ich, dass Freiherr Karl von Drais (1785-1851) aus Karlsruhe uns 1817 das Laufrad geschenkt haben soll.“ Erst vor wenigen Tagen, am 12. Juni, wurde auch in der MZ auf den 198. Jahrestag der Erfindung von Karl Drais hingewiesen. „Das ärgert mich natürlich, weil es aus meiner Sicht einfach nicht stimmt.“ Und daher tut Hoffmann alles, um dem wackeren Handwerker Kaßler endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Dieser ehrenamtliche Einsatz beschert ihm von Zeit zu Zeit ein Wechselbad der Gefühle. So verdanke er dem Laufrad die unruhigste Nacht seines Lebens. Der Grund: Diebe suchen ihn ausgerechnet da heim, als er kurz nach dem Mauerfall das legendäre Kaßler-Rad im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg ausfindig macht und anschließend nach Hause holen darf, als zeitweilige Leihgabe.
Nur mit Mühe gelingt es ihm, die Einbrecher in die Flucht zu schlagen. „Danach schleppte ich das Laufrad, das 75 Kilogramm wiegt, erst einmal ins Haus, stellte es direkt neben mein Bett.“ Seine größte Sorge: Der Versicherungswert des Stücks ist sehr hoch, liegt bei umgerechnet 30.000 Euro.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, wieso es in Braunsbedra heute sogar zwei Laufräder gibt.
Heute verfügen die Braunsbedraer sogar über zwei Laufräder, die dem Original auf den Millimeter gleichen. Bei einer Länge von 2,25 Metern müssen gewöhnlich zwei ausgewachsene Männer zupacken, wenn es vom Stellplatz auf die Straße bugsiert werden soll. Ein Exemplar steht im Rathaus, vor dem Zimmer von Bürgermeister Steffen Schmitz (CDU).
Ihn packt mittlerweile auch die Laufrad-Begeisterung. Das andere Laufrad können Besucher in der Pfännerhalle, der früheren Zentralwerkstatt des ehemaligen Braunkohlewerkes, bewundern. Spätestens dann erschließt sich auch das Wappen des über 1.000 Jahre alten Ortes, das ein stilisiertes Rad zeigt.
Während der Nachforschungen, sagt Hoffmann, erlebe man als Laufrad-Enthusiast und Hobby-Historiker einige Überraschungen. Groß ist bei ihm die Freude zum Beispiel über eine bisher unbekannte Urkunde. Erst kürzlich von Kaßlers Nachfahren in einem Freyburger Archiv gefunden, belegt sie Hoffmann zufolge die Zunftzugehörigkeit - und damit auch das handwerkliche Geschick des Erfinders aus Braunsbedra.
Das Dokument passt zum spektakulären Fund des Kaßler-Laufrades im Jahre 1904.
„Es lag inmitten einer alten Strohschüttung unter dem Scheunendach, gut erhalten.“ Obwohl es allein schon über dieses Ereignis viele detaillierte zeitgenössische Berichte vorliegen würden, so Hoffmann, bleiben die Anhänger des Freiherrn von Drais skeptisch. So fragen sie laut Hoffmann oft, warum sich Kaßler seine Erfindung nicht habe patentieren lassen. Drais besitzt es dagegen schwarz auf weiß: ein großherzogliche Privileg für sein Laufrad.
Eine Bremse sucht man vergebens
Hoffmann klärt dann bereitwillig auf. Zu Lebzeiten Kaßlers habe es noch gar kein Patentamt gegeben. Zudem sei es dem bodenständigen Stellmacher nicht um Werbung oder ein extra Geschäft gegangen. „Für ihn war das Laufrad offenbar ein schlichtes Fortbewegungsmittel.“ Der Anstoß, sich etwas einfallen zu lassen, stammt - und das ist verbürgt - vom Braunsbedraer Schlossherrn. Kaßler, wohl kein Ausbund von Pünktlichkeit, solle aufs Tempo drücken.
Kerl, mache er sich schnelle Beine, so ein geflügelte Wort in jener Zeit. Was im Vergleich zu Drais den eigentlichen Geistesblitz ausmacht: Das Laufrad von Braunsbedra lässt sich bereits sicher lenken und durch eine tiefe Sitzposition gut ausbalancieren.
Einziges Manko: eine Bremse sucht man vergebens. Insofern müssen Hoffmann und Co. immer vorausschauend fahren. Sonst passiert es, wie bei einer Wettfahrt anlässlich des Heimatfestes im vorigen Jahr: Rahmenbruch. Trotz der enormen Reparaturkosten kann Hoffmann selbst daran etwas Gutes erkennen.
Denn der Bruch sei genau an jenem Punkt erfolgt, den bayerische Wissenschaftler als die konstruktive Schwachstelle des Kaßler-Laufrades berechnet haben - ein Stück unterhalb des Lenkers. Aus diesem Grund will der Heimatverein für Aus- und Wettfahrten zwei Laufräder nach Originalplänen, jedoch mit Stahlrahmen, anfertigen lassen.
Sponsoren für die Reparatur
Offen ist, wer das bis zum Heimatfest Ende August noch bezahlen soll. Hoffmann hofft auf Sponsoren aus dem Tourismus. Rund um den Geiseltalsee kann man 38 Kilometer Radwege abspulen. Mit dem Kaßler-Rad könnte man für diesen in Mitteldeutschland einmaligen Besuchermagneten die Werbetrommel rühren.