Fluchtversuch auf der Elbe bei Wittenberge Fluchtversuch auf der Elbe bei Wittenberge: Sieben Meter bis zur Freiheit
Lingenau/MZ. - Die DDR wollten die Augustins unbedingt verlassen. Akribisch bereiteten sie sich vor - dann scheiterte ihre Flucht durch die Elbe an einem klirrend kalten Wintertag.
Bereut? Das ist so ziemlich die ungeschickteste Frage, die man den Augustins stellen kann. "Natürlich nicht", antworten die beiden, die heute wieder in der Nähe von Dessau leben, wie aus einem Mund. Denn schließlich habe man nicht wissen können, dass irgendwann die deutsche Einheit kommt. "Wir haben es richtig gemacht", sagt Manfred Augustin. Trotz jahrelanger Arbeit, trotz all dieser Mühen und trotz der langen Haftstrafe. Nur eins wissen sie noch immer nicht: Was aus ihrem U-Boot geworden ist.
Die Unzufriedenheit, das Gefühl eingesperrt zu sein, begleitete das Ehepaar durch all die Jahre in der DDR. Und vor 30 Jahren brachen die zwei schließlich auf. "Wir wollten raus, wir wollten nicht unser ganzes Leben in diesen Zwängen verbringen", so der 71-Jährige. Er hatte in Chemnitz Maschinenbau und in Dresden Thermodynamik studiert. In Roßlau arbeitete und entwickelte er später Dieselmotoren, die auch für die Armee genutzt wurden. Seine heute 68 Jahre alte Frau Adelheid leitete den HO-Handelsbetrieb für Industriewaren.
Abenteuerlicher Plan
In jenen Jahren entstand ihr abenteuerlicher Plan. Mit einem selbst gebauten U-Boot wollte das kinderlose Ehepaar die DDR verlassen. Es war die einzige Chance, die sie für sich sahen. Auf dem Landweg über die Grenze - das trauten sie sich wegen der Minen nicht zu. Mit einem selbst gebauten Hubschrauber die Mauer zu überqueren - da hätten sie zu wenig Platz, um auch einige persönliche Dinge mitzunehmen. So blieb nur das Wasser. "Die Flucht durch die Spree in Berlin war wegen der Überwachung nicht durchführbar", erzählt Augustin. Immer wieder fuhr er durch die DDR und suchte einen Platz, an dem ein U-Boot zu Wasser gehen könnte. Augustins entschieden sich für die Elbe bei Wittenberge.
1967 begann eine Aktion, die Jahre dauern sollte. Nach der Arbeit fuhr Manfred Augustin nach Hause und ging in seine zweite Schicht - am Reißbrett. Der Motorenexperte entwickelte ein U-Boot, sieben Meter lang und knapp vier Tonnen schwer, angetrieben durch einen Wartburg- und einen ausrangierten Elektromotor mit Batterie. Sieben Kilometer sollte das Boot in der Stunde schaffen. Dann würde, so die Überlegung, das Tauchen in der Elbe etwa zwei Stunden dauern. Schließlich war die Planung ausgereift, und Augustins tauschten zwei kleine Wohnungen gegen ein altes Haus mit geräumiger Garage. Augustin begann zu bauen.
Aber woher all das Material besorgen in einem Land, in dem der Mangel herrschte? Für den Forschungsleiter kein Problem. Die optischen Geräte für das Sehrohr wurden aus Jena beschafft. Das zehn Millimeter starke Blech kam aus Österreich und war eigentlich für die Forschung bestimmt. Augustin zweigte es ab und ließ seine Kollegen unter der Hand die Teile schweißen, die er später allein zusammen fügte. "So wusste niemand, was es werden soll." Und fragte jemand, hatte er eine passende Antwort. "Ich sagte, es wird eine Wasseraufbereitungsanlage für meine Promotion in Dresden."
Im Januar 1976 war es soweit. Augustin, inzwischen Investbauleiter, mietete einen Tieflader von einem Baubetrieb. Sieben Meter war sein Boot jetzt lang. Sieben Meter, die ihn in die Freiheit bringen sollten. Er mietete Wochen vorher eine Scheune, denn mit dem Tieflader war die Fahrt in den Norden nicht ohne nächtlichen Zwischenstopp zu schaffen. Und dann der Schock: Es war nicht nur eisig kalt. An der Stelle, die sich das Ehepaar ausgesucht hatte, lagerten Russen. "Die machten gerade ein Manöver."
Sie fuhren ein paar Kilometer weiter, und dort passierte das Unfassbare. Augustin vergaß, die Handbremse anzuziehen. Ein Sicherungsseil riss, das schwere U-Boot rutschte in die Böschung. Sie kämpften stundenlang: gegen die Kälte, gegen die Zeit, gegen die Angst. Am frühen Morgen, bei strahlendem Sonnenschein und klirrender Kälte, schafften es Adelheid und Manfred Augustin endlich. Sie stiegen in die Röhre mit einem Durchmesser von 87 Zentimetern und schipperten mit der Strömung durch die Eisrinne. Das Ziel, westdeutsche Seite, schien so nah.
Von Eisbrecher gerammt
Wenn nur bei Wittenberge nicht ein Eisbrecher gewesen wäre. "Der rammte uns", so Adelheid Augustin. Vor allem aber: Anstatt sie einfach weiterziehen zu lassen, verständigte die Besatzung die Polizei. Die wagte nicht, das U-Boot aufzubringen. "Die dachten, wir hatten Torpedos an Bord." Kurz vor der Grenze, kurz vor dem niedersächsischen Schnackenburg, schlug die Staatsmacht jedoch zu.
Augustins wurden verhaftet und wenige Monate später verurteilt. Er erhielt eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren, seine Frau sollte vier Jahre hinter Gitter. Er kam nach Brandenburg, seine Frau ins berüchtigte Hoheneck. Fast vier Jahre später fielen beide unter die Amnestie zum 30. Jahrestag der DDR. Aber ausreisen, was sie inzwischen längst beantragt hatten, konnten sie nicht. Manfred Augustin musste als Schlosser, seine Frau als Verkäuferin arbeiten.
Zwei Jahre später durften sie dann in den Westen. Nach dem Studium seiner umfangreichen Stasi-Akte weiß Augustin auch warum. Dort stand es Schwarz auf Weiß: "Augustin versichert in Gesprächen glaubhaft, dass er andernfalls einen Hubschrauber baut."