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Flucht und Vertreibung in Ostpreußen Flucht und Vertreibung in Ostpreußen: Einige Adlige übernahmen in der Gefahr die Verantwortung

05.03.2007, 19:18

Halle/MZ. - Gibt es verlässliche Zahlen zur Flucht aus Ostpreußen?

Wagner: Man kann sagen, dass fast alle Deutschen aus Ostpreußen flohen oder vertrieben wurden. Das sind etwa zwei Millionen Menschen. Schaut man auf ganz Europa, dann sind zwölf Millionen Deutsche davon betroffen gewesen.

Der ARD-Film "Die Flucht" spielt auch auf die Lebensgeschichte der Publizistin Marion Gräfin Dönhoff an. Hat der ostpreußische Adel Verdienste bei dem Versuch, große Teile der Bevölkerung vor der Roten Armee zu retten?

Wagner: Familien wie die Dohnas und Lehndorfs verachteten die Nazis aus einer aristokratischen Haltung heraus. Für die waren Nazis einfach Pöbel. Allerdings hatten viele adlige Gutsbesitzer nach dem Ersten Weltkrieg ihre Wirtschaftsmacht verloren, viele Güter arbeiteten unrentabel. Dieses Klientel erhoffte sich durch Hitler einen neuen Aufstieg. Es ist unbestritten, dass in der Stunde der Gefahr einige Adlige Verantwortung bei der Zusammenstellung und Führung der Flüchtlingstrecks übernahmen. Allerdings hat die politische Rolle des Adels auch zur Entstehung dieser Gefahr beigetragen.

Welche politische Rolle haben die Adelsfamilien gespielt?

Wagner: Einige Familien gehörten zum engen Umkreis des Reichspräsidenten Hindenburg in der Weimarer Republik und nahmen Einfluss auf ihn. Sie haben Lobbyarbeit betrieben, damit Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernennt. Als treibende Kräfte kann man etwa die Oldenburg-Januschaus nennen.

Hatte der ostpreußische Adel etwas mit den Nazis gemein?

Wagner: Ja. Den radikalen Nationalismus.

Tötet!Tötet! Tötet! Mit diesem Aufruf soll der Literat Ilja Ehrenburg die Rotarmisten aufgefordert haben, in Ostpreußen zu morden und zu vergewaltigen. Welche Wirkung hatte das?

Wagner: Es ist wahr, dass Soldaten sich für eigenes Leid rächten. Aber es gab auch die anderen. Wenn man Ilja Ehrenburg sagt, muss man auch Lew Kopelew sagen. Der hat sich in Allenstein als Offizier schützend vor deutsche Frauen gestellt. Dafür kam er in den Gulag.

War das Thema "Flucht" in den letzten Jahrzehnten tabuisiert?

Wagner: In der DDR ja. In der Bundesrepublik gab es Phasen. In den Fünfzigern und Sechzigern wurde darüber geredet, es gab Filme und Bücher. Später, ab den Siebzigern, behandelten Politiker wie Willy Brandt und Walter Scheel das Thema vorsichtig. Man akzeptierte dies als Preis, den man für den Krieg zu zahlen hatte. Allerdings instrumentalisierten Rechtsextreme das Thema. Schaut man sich heute das TV-Programm an, vergeht keine Woche, wo man nicht eine Dokumentation zu Ostpreußen oder Schlesien sehen kann. Tabus kann ich nicht erkennen.