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Flucht aus der DDR Flucht aus der DDR: Spontan durch das Tor beim «Paneuropäische Picknick»

Von Jörg Müller 18.08.2004, 18:31

Halle/MZ. - Als Andreas Nagler Mitte August 1989 nach Ungarn fährt, weiß er noch nicht, dass er wenige Tage später in den Westen gehen wird. "Wir wollten Urlaub machen", sagt der 31-Jährige, der aus einem Dorf in Sachsen stammt und heute in Halle lebt. "Wir", das sind außer dem damals 16-Jährigen sein Vater Detlev, sein zwei Jahre älterer Bruder Stephan und dessen bester Freund Heiko.

Lediglich Stephan plant die Flucht. Er ist unzufrieden mit dem Leben in der DDR. "Materielle Gründe waren es nicht, uns ging es immer gut", sagt Andreas Nagler. "Ich selbst habe nicht daran gedacht, zu fliehen." Er hat gerade die zehnte Klasse abgeschlossen und soll im September eine Lehre antreten.

Die Vier fahren an den Neusiedler See bei Sopron. In der Gegend finden sich immer wieder Schlupflöcher nach Österreich. "Auf dem Zeltplatz waren vor allem DDR-Leute", erinnert sich Nagler. "Viele Zelte standen schon leer, und es wurden jeden Tag mehr." Es sind Tausende, die in jenem Sommer die Flucht über Ungarn versuchen. Das Land hat im Mai 1989 damit begonnen, Sicherungsanlagen an der Grenze abzubauen; Ende Juni zerschneiden die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, symbolisch den Stacheldraht an einem Grenzabschnitt. Frei ist der Weg in den Westen allerdings noch nicht: Viele DDR-Bürger werden an der Grenze aufgegriffen und zurückgeschickt.

Auf dem Zeltplatz bei Sopron herrscht gedämpfter Optimismus. "Wir hatten das Gefühl, dass bald irgendwas passiert", erzählt Andreas Nagler. Und tatsächlich: Flugblätter tauchen auf, die für den 19. August ein "Paneuropäisches Picknick" ankündigen. Den meisten sei sofort klar gewesen, so Nagler: "Mensch, das ist die Gelegenheit." Sein Bruder befürchtet allerdings, dass nur der erste Zaun auf ungarischer Seite und nicht die richtige Grenze geöffnet werde. "Dazwischen war noch ein mehrere Kilometer breiter Streifen." Die Brüder beschließen, "wir gucken uns das mal an", und gehen los - ohne Gepäck, ohne Ausweise, ohne Geld.

"Die ungarischen Grenzer haben gar nichts gemacht, die waren von dem Ansturm völlig überfordert", erzählt Nagler. Nachdem sie den ersten Zaun passiert haben, werden die Brüder vom Vater und dem Freund getrennt: Ein amerikanischer Journalist nimmt sie in seinem Jeep mit durch den Grenzstreifen. Als sie am eigentlichen Grenzzaun ankommen, ist das Tor bereits offen. "Mein Bruder ist durchgegangen und wieder zurückgekommen. ,Ich war in Österreich, es ist ganz einfach', sagte er."

Mittlerweile sind auch der Vater und der Freund eingetroffen - und als sich Stephan von ihnen verabschieden will, "da hat es bei mir klick gemacht, und ich habe gesagt: ,Ich gehe mit'", berichtet Andreas Nagler. Warum? "Ich kann es nicht sagen, es war ein spontaner Entschluss." Der Vater ist sprachlos: "Damit hatte er nicht gerechnet. Um seinen Großen machte er sich keine Sorgen, aber ich habe immer sehr an meiner Mutter gehangen und sie an mir." Sein Bruder versucht, ihn umzustimmen - ohne Erfolg. Schließlich gehen sie gemeinsam durch das Tor.

In Österreich werden sie bereits erwartet. "Das lief alles sehr professionell." Busse bringen die Flüchtlinge nach Wien, von dort geht es mit einem Sonderzug weiter. Die Brüder landen in Bayern, wo sie Verwandte haben. Bereits am 1. September beginnt Andreas Nagler eine Ausbildung. Als im November die Mauer fällt, sitzt er "heulend und mit Gänsehaut" vor dem Fernseher. "Da habe ich gewusst, jetzt wird alles gut. Das hat mich emotional viel mehr mitgenommen als meine eigene Flucht."

Seit 1996 lebt Nagler, der als Bezirksverkaufsleiter für eine große Kosmetikfirma arbeitet, in Halle. Vor fünf Jahren war er mit seinem Bruder noch einmal in Sopron, wo jedes Jahr des Paneuropäischen Picknicks 1989 gedacht wird. Auch dieses Jahr nehmen sie an der Veranstaltung teil. Mit dem Satz: "Ihr habt damals Geschichte mitgeschrieben", den sie manchmal hören, kann Nagler allerdings nicht viel anfangen. "Das ist mir gar nicht so bewusst."

Der Film "Jetzt oder nie - Die Grenzgänger von Sopron" läuft am 19. August, 18 Uhr, bei 3 Sat.

Am 9. November 1989 öffnete sichin Berlin die innerdeutsche Grenze. Der Abendund die folgende Nacht waren Stunden, dieim Gedächtnis haften. Wie haben Sie, liebeLeserinnen und Leser, den Tag verbracht, bevorer historisch wurde? Schreiben Sie uns IhreErinnerungen auf. Wir wollen möglichst vieledavon am 9. November veröffentlichen. Texte bitte an: Mitteldeutsche Zeitung,Ressort Sachsen-Anhalt, 06075 Halle; E-Mail: [email protected]