Erste Hilfe in Notsituationen Erste Hilfe in Notsituationen: Im Ernstfall überfordert

Halle (Saale) - Das Unheil bahnte sich hörbar an, damals auf der Landstraße bei Naumburg (Burgenlandkreis).
Als vor ihr ein Auto links abbog, hörte Claudia L. nur noch das Gas aufheulen von dem Motorrad in der Schlange hinter ihr. Sekunden später lag der Motorradfahrer reglos auf der Straße. Er hatte zwar einen Zusammenprall mit dem Auto noch verhindern können, war dabei aber schwer gestürzt. Claudia L. stieg aus, um zu helfen. Selten haben ihr dermaßen die Knie gezittert wie in diesem Moment, sagt sie. „Mein Erste-Hilfe-Kurs war fast 20 Jahre her.“ Was tun? Der rettende Engel kam in Gestalt eines anderen Autofahrers: „Lassen Sie mal, ich bin Rettungssanitäter und weiß, was zu tun ist.“ Claudia L. blieb die Rolle als „Hilfs-Helferin“: Decke holen, beruhigen. Gar nicht einzugreifen, sei ihr nicht in den Sinn gekommen.
Weiterfahrt statt Hilfe
Doch immer wieder gibt es Situationen wie am vergangenen Wochenende auf der Autobahn 2 bei Magdeburg: Statt anzuhalten und Hilfe anzubieten, fahren Autofahrer weiter. Machen im schlimmsten Fall noch Fotos. „Eine Seltenheit ist dieses Verhalten ganz sicher nicht“, klagt Professor Peter Sefrin, einer der führenden deutschen Notfall- und Katastrophenmediziner. „Zwar gibt es darüber keine Statistik, denn die Gaffer werden von der Polizei häufig einfach weggeschickt. Aber fest steht, dass die Menschen von spektakulären Unfällen wie dem in Magdeburg angezogen werden. Man kann sagen: Je größer ein Unfall, desto sicherer hat man es mit Gaffern zu tun.“
Verschüttetes Wissen
Doch warum wird nicht geholfen? Problematisch sei vor allem Unsicherheit, sagt ADAC-Sprecher Jochen Oesterle - darüber, wie ein Unfallort abzusichern ist, aber vor allem bei Erster Hilfe. „Diese Unsicherheit nimmt zu, je länger der Erste-Hilfe-Kurs her ist.“ Schon nach zwei Jahren, sagen Untersuchungen, geht das Wissen aus einem solchen Kurs auf rund die Hälfte zurück. Das hat ernüchternde Folgen: So ergab eine Umfrage im Jahr 2013, dass sich zwar 73Prozent der Autofahrer grundsätzlich zutrauen, Erste Hilfe zu leisten, aber nur ein Drittel alle erforderlichen Schritte am Unfallort kannte.
Nur knapp die Hälfte wusste, wie die stabile Seitenlage funktioniert, nur jeder Fünfte war in der Lage zu einer Wiederbelebung. Ein Grund: Bei 38 Prozent der Befragten lag der letzte Erste-Hilfe-Kurs mehr als zehn Jahre zurück. Schon 2010 hatten Forscher der Universitätsklinik Mainz neue Konzepte gefordert, um mehr Menschen zur Auffrischung früheren Wissens zu motivieren. Sie hatten 89 Passanten mit einer Trainingspuppe konfrontiert, die wiederzubeleben war. Keiner arbeitete völlig korrekt, zehn Prozent kannten nicht einmal eine Notrufnummer.
Lesen Sie auf der nächsten Seite wie Sie sich im Zweifelsfall verhalten sollten und ob Fehler in der Ersten Hilfe juristische Konsequenzen nach sich ziehen.
Kommt es dann zu einer Situation wie dem Unfall auf der A 2, können verschiedene Gründe eine Hemmschwelle zum Helfen sein, sagen Untersuchungen: die Angst sich selbst zu gefährden, die Befürchtung, etwas falsch zu machen oder sich vor anderen zu blamieren. Ein Phänomen, sagt ADAC-Verkehrspsychologe Ulrich Chiellino, werde in der Fachsprache als Verantwortungsdiffusion beschrieben: „Keiner macht den ersten Schritt. Und jeder redet sich ein: Wenn keiner hilft, kann die Situation nicht so schlimm sein.“ Ähnliches könne passieren, wenn erste Helfer schon im Einsatz sind. Je mehr an einer Unfallstelle stehen, desto lieber rede man sich ein, dass bereits alles getan wird.
Verhalten im Zweifelsfall
„Das kann nach hinten losgehen“, warnt Sprecher Oesterle, sprich als strafbare unterlassene Hilfeleistung gewertet werden. „Im Zweifel sollte man immer anhalten und fragen, ob weitere Hilfe benötigt wird. Gerade bei mehreren Verletzten wird oft eine zusätzliche Hand gebraucht, und sei es, um einen unter Schock stehenden Unfallbeteiligten daran zu hindern, auf die Autobahn zu laufen.“ Und selbst wenn genügend Hilfe da wäre: Sich auf dem Standstreifen einfach irgendwie vorbeidrängeln statt zu warten, dabei womöglich noch andere zu gefährden wie jetzt bei dem Unfall auf der A2?
„Das kann auch ein Fluchtreflex vor der Situation sein - und wenn es einer macht, gibt es einen Nachahmereffekt“, sagt Psychologe Chiellino. Fährt erst eine ganze Kolonne vorbei, nehme keiner für sich selbst mehr Anstoß daran. Mancher spule in einer solchen Stress-Situation womöglich auch Handlungen ab, die ihm aus dem Alltag eher vertraut sind: nämlich von der Polizei an einer Unfallstelle vorbeigeleitet zu werden - nur dass in diesem Fall eben noch gar keine Polizei vor Ort ist.
Initiative "Zweite Erste Hilfe"
Verkehrs- und Medizinexperten haben inzwischen vor allem auf die Unsicherheiten bei der Ersten Hilfe reagiert: Im vergangenen Herbst startete der Deutsche Verkehrssicherheitsrat mit Hilfe des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) eine Initiative „Zweite Erste Hilfe“. Rund zehn Prozent der tödlich Verunglückten könnten jährlich durch Erste Hilfe gerettet werden, hieß es zum Auftakt. Mit der Öffentlichkeitskampagne soll zu Auffrischungskursen motiviert werden.
Auch der DRK-Landesverband Sachsen-Anhalt beteiligt sich seit Dezember. Angeboten werden zwei jeweils 90 Minuten lange Module: „Verhalten nach einem Verkehrsunfall“ oder „Kreislauf“. „Unsere Experten empfehlen zur Auffrischung auch, das gesamte ganztägige Erste-Hilfe-Training zu absolvieren“, so DRK-Sprecherin Annett Patzschke. Grundsätzlich bietet das DRK im Land rund 50000 Kurse jährlich an. „An einer Auffrischung war das Interesse vorher leider nicht so groß“, so Patzschke. Dass es bestehe, habe sich jetzt aber seit Beginn der Kampagne „Zweite Erste Hilfe“ gezeigt.
Keine juristische Konsequenz
Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat räumt darin auch mit der Angst auf, sich für Fehler in der Ersten Hilfe verantworten zu müssen. „Es gibt keine juristischen Konsequenzen“, so Sprecherin Carla Bormann. Und als Argument für alle, die sich überfordert fühlen: „Verletzte sagen uns immer wieder, wie wichtig es schon ist, einfach da zu sein, die Hand zu halten, zu beruhigen.“
Auch Notfallmediziner Peter Sefrin betont: „Es gibt nur einen wirklich gravierenden Fehler bei der Ersten Hilfe - keine Erste Hilfe zu leisten. Im Übrigen gilt, dass selbstverständlich von keinem Laien professionelle Hilfe erwartet wird, sondern nur die banalste Hilfeleistung.“ (mz)