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Deutsch-deutsche Teilung Deutsch-deutsche Teilung: Böckwitz/Zicherie als Little Berlin

Von Alexander Schierholz 13.08.2013, 06:06
Aufnahme vom Abbau der Mauer im November 1989
Aufnahme vom Abbau der Mauer im November 1989 Andreas Stedtler Lizenz

Böckwitz/Zicherie/MZ - Bisher lief es so in Böckwitz und Zicherie, dem Doppeldorf auf der Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen: Wenn die Schützen ihren alljährlichen Umzug anmelden wollten, brauchten sie Genehmigungen von zwei Landratsämtern - aus Salzwedel im Osten und aus Gifhorn im Westen. „In Gifhorn war das immer vier Mal so teuer“, sagt Ulrich Lange, Vorsitzender des gemeinsamen Schützenvereins. Erst seit dem vergangenen Jahr genügt ein Antrag. Den Rest regeln die Behörden unter sich.

Böckwitz, 150 Einwohner, Ortsteil der Stadt Klötze, Kreis Salzwedel, Sachsen-Anhalt. Zicherie, 300 Einwohner, Ortsteil der Samtgemeinde Brome, Kreis Gifhorn, Niedersachsen. Zwei Dörfer direkt nebeneinander, diesseits und jenseits der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, die sich immer als eins gefühlt haben.

Vor 52 Jahren wurde in Berlin die Mauer gebaut. Zwischen Böckwitz und Zicherie stand sie da schon neun Jahre, seit 1952 in der „Aktion Ungeziefer“ massenweise Menschen aus den ostdeutschen Grenzgebieten zwangsumgesiedelt worden waren. Erst seit 18. November 1989 ist der Weg zwischen den Dörfern wieder frei, neun Tage nach dem Mauerfall in der Hauptstadt.

Wo Mauer und Zaun standen, erstreckt sich heute ein Streifen in der Sommerhitze verbrannten Grüns. Wären da nicht die Ortsschilder, die Kreisschilder und große braune Hinweistafeln zur Erinnerung an die deutsche Teilung, man würde Böckwitz und Zicherie für ein Dorf halten. Mit einer großen Wiese mittendrin. Wie in so vielen Dörfern.

Böckwitz/Zicherie - das ist wie Berlin, nur hundert, tausend, zehntausend Mal kleiner, ein plötzlich getrenntes Gemeinwesen. Wie in einem Brennglas bündeln sich hier die deutsche Teilung und ihre Folgen - bis heute.

Ulrich Lange sitzt im Schatten hinter seinem Haus, er muss gleich los, der Raps wartet. Der Landwirt ist hier groß geworden, auf dem Hof seines Vaters in Zicherie, einen Steinwurf weg von der ehemaligen Grenze. Seine Mutter war als junge Frau 1952 aus der Altmark geflüchtet. Der schlanke hochgewachsene Mann erinnert sich an Besuche bei der Verwandtschaft in Klötze und Salzwedel, als er noch ein Kind war, an endlose Autofahrten im engen VW Käfer, ellenlange Umwege bis zum nächsten Grenzübergang, 60 Kilometer nördlich. Jeder in Zicherie und Böckwitz kann solche Geschichten erzählen, von zerrissenen Familien, zermürbenden Grenzkontrollen und dem Wunder der Wiedervereinigung.

Aber ist jetzt, fast ein Vierteljahrhundert danach, zusammengewachsen, was zusammengehört?

Mauer und Stacheldraht sind weg. Neue Grenzen aber sind da. Sie trennen Bundesländer, Landkreise, Gemeinden. Sie haben Ulrich Lange und seine Schützen bisher doppelt Anträge stellen lassen, um ihren alljährlichen Umzug genehmigt zu bekommen. Sie bescheren dem Schützenverein, 80 Mitglieder, ein Viertel davon aus dem Osten, jedes Jahr doppelt Post von der Gema. Einmal aus Hannover, einmal aus Leipzig. Lange grinst. „Die Leipziger verweisen wir dann immer nach Hannover.“ Trotzdem kommt der Gema-Brief jedes Jahr verlässlich auch aus Sachsen.

Man könnte diesen Behörden-Marathon für kurios halten. Randy Schmidt aber findet das alles nicht mehr lustig. „An der Grenze ist für uns Schluss“, sagt der Leiter der Freiwilligen Feuerwehr aus dem Böckwitzer Nachbarort Jahrstedt. Für Böckwitz sind Schmidt und seine Leute noch zuständig, für Zicherie schon nicht mehr. Das machen die Kollegen aus Brome in Niedersachsen. Weil Feuerwehr Sache der Gemeinden ist. Und der Länder.

Schmidt blättert im Brandschutz-Gesetz Sachsen-Anhalts. Demnach müssen Feuerwehren zwar unter bestimmten Voraussetzungen „Nachbarschaftshilfe“ in angrenzenden Orten leisten. Das sei aber die Ausnahme, sagt der Wehrleiter. Und kam bisher praktisch nicht vor. Nur einmal halfen die Retter aus Brome bei einem Unfall in Sachsen-Anhalt aus.

In der Regel aber alarmieren die Leitstellen zunächst die Feuerwehren aus dem eigenen Bundesland. Obwohl die jenseits der Grenze manchmal dichter dran sind. Schmidt erzählt von einer Spanplattenfabrik in seinem Beritt. „Bis dahin brauchen wir 15 bis 20 Minuten. Die Kameraden aus Niedersachsen sind schneller.“ Mit denen aber dürfen sie noch nicht einmal gemeinsam üben, aus Versicherungsgründen. Es sei denn, sie lassen sich das Training vorher von den Landkreisen absegnen. Schmidt verdreht die Augen. Immerhin: Den alljährlichen Schützenumzug begleitet komplett die Bromer Feuerwehr, erzählt Vereinschef Ulrich Lange. „Irgendwann hat die Polizei in Sachsen-Anhalt einfach gesagt, macht mal.“ Eine Lösung auf dem kleinen Dienstweg.

Bis 1952, erzählt Willi Schütte, der auf den Hof seiner Eltern in Böckwitz ein kleines Grenzmuseum eingerichtet hat, gab es in Böckwitz und Zicherie alles nur einmal: eine Kneipe, einen Bäcker, einen Schmied, eine Molkerei. Und eine Grundschule.

Heute lernen die Kinder aus Böckwitz die ersten vier Jahre in Kunrau, Sachsen-Anhalt, die aus Zicherie in Brome, Niedersachsen. Bei den weiterführenden Schulen setzt sich diese Trennung fort. Auch Bildung ist Ländersache. „Die Kinder, die früher mal zusammen gespielt haben, haben so kaum noch Kontakt zueinander“, sagt Lange. „So entstehen Cliquen.“ Getrennt nach Ost und West.

Der Schützenverein Zicherie/Böckwitz, gegründet 1872, ist alles, was noch übriggeblieben ist vom alten Doppeldorf. „Den Doppelnamen haben wir immer beibehalten“, sagt Vereinschef Lange stolz, „auch wenn die Böckwitzer während der Teilung nicht dabei sein konnten.“ Heute zeigt die Vereinsfahne eine Buche für Böckwitz und eine Eiche für Zicherie, dazu den Schriftzug „Wiedervereint 1990“. Jedes Jahr darf der Schützenkönig auf der Grünfläche zwischen den Dörfern einen Baum entsprechend seiner Herkunft pflanzen. Zehn Eichen stehen dort und drei Buchen. Symbolik auf Schritt und Tritt. Auch außerhalb des Ortes, wo der Museumsverein von Willi Schütte einen „Grenzlehrpfad“ eingerichtet hat, mit Kolonnenweg, Mauer und Wachturm. Dort hat Hans-Dietrich Genscher 1998 einen Ahorn zum Gedenken an die Einheit gepflanzt, und zeitweilig sah es so aus, als müsste man ihn ersetzen. „Aber mittlerweile hat er sich berappelt“, sagt Ulrich Lange vom Schützenverein.

Was wäre das auch für ein Zeichen gewesen: Genschers Einheitsbaum tot! Dabei findet Lange, dass es doch mittlerweile ganz gut klappt mit der Einheit, auch in Böckwitz/Zicherie. Beim Schützenfest, jedes Jahr am Pfingstwochenende, sitzen sie zusammen im Zelt, das in Zicherie steht, weil es eben schon immer dort gestanden hat, und erzählen sich die Trennungsgeschichten. „Man weiß, wo man herkommt, man hat verschiedene Wurzeln, aber man bewegt sich aufeinander zu“, sagt Lange. „Das macht für mich innere Einheit aus.“

Willi Schütte aber, der Mann vom Grenzmuseum, ist nicht so optimistisch. 1953, nach dem 17. Juni, ist seine Mutter mit ihm und seinen Schwestern in den Westen geflohen, hat den Hof in Böckwitz zurückgelassen. Nun ist Schütte wieder da, neben dem Museum hat er sich eine kleine Wohnung eingerichtet. Aber in der Regel lebt er weiter in Niedersachsen. Manche Ältere in Böckwitz, frühere Schulkameraden, neideten ihm das Museum, erzählt er. „Angeblich verdienen wir damit Geld.“ Er lacht bitter. „Im Gegenteil“, er weist auf die Vitrinen mit Fotos und Karten zur Geschichte der Grenze, auf alte Grenztafeln, „das kostet alles Geld!“ Fördermittel gebe es nicht. Willi Schütte, so scheint es, fremdelt noch ein wenig.

Vielleicht ist es eine Generationenfrage. Eine seiner Töcher, sagt Ulrich Lange, studiert in Hamburg. Ihre Mitbewohnerin kommt aus Erfurt. „Spielt aber gar keine Rolle.“ Den um die 20-Jährigen müsse man die DDR und die deutsche Teilung ohnehin erklären „wie das alte Ägypten“. Geschichte eben.

Feuerwehrchef Randy Schmidt
Feuerwehrchef Randy Schmidt
Andreas Stedtler Lizenz