Das letzte Experiment Das letzte Experiment: Wie ein Physiker zum Drogenkoch wurde

Halle (Saale) - Bei Richard Wagner konnte er weinen. Und am Klavier konnte er andere mit Chopin zum Weinen bringen. Er war besessen, aber er war nicht glücklich. Er war brillant, aber er fand nie den Platz, an dem er es hätte sein können. An seinem letzten Tag legt sich Olaf Lichtenberger auf sein Bett. Er stirbt ganz still. Zwei Tage später erst alarmiert eine Bekannte die Polizei, weil er nicht ans Telefon geht. Eine Streife stellt seltsame Schläuche fest, die aus einem der Fenster in dem Haus am halleschen Stadtrand hängen. Das anrückende Großaufgebot sperrt die Gegend ab. Beamte finden den Hausherren des zugewachsenen kleinen Häuschen tot im Bett.
Das Ende eines Lebens, das auch anders hätte verlaufen können. Olaf Lichtenberger, am Tag seines Todes 56 Jahre alt, galt allen, die ihn kannten, als außergewöhnlicher Kopf. Der Physiker und Pharmazeut, der an der Martin-Luther-Uni studiert hatte, wollte ursprünglich an der Uni bleiben, wie er später erzählt hat. Doch dort hätten sie ihn nicht gewollt. „Er sagte immer, dass ein Professor etwas gegen ihn hatte“, erzählt eine Bekannte. Olaf Lichtenberger hat damals begonnen, darunter zu leiden, dass sein Lebensplan nicht aufging.
Kübel von Dreck
„Er hat es allen zeigen wollen“, glaubt eine Freundin, die bis zuletzt zu ihm hielt. Zuletzt, das war die Phase danach, der Lebensabschnitt, in dem Lichtenberger vom begnadeten Sonderling zum an der Welt, an den Menschen und an sich selbst leidenden Eremiten geworden war. Denn zeigen wollen hatte er allen, wie die Zukunft der Psychotherapie aussehen würde. „Er suchte nach neuen psychoaktiven Substanzen, stellte die her und testete sie an Freunden und Bekannten.“ Eine Suche nach der chemischen Formel für Glück. Bis einer aus dem Kreis ihn verrät. Großrazzia, Polizei, Presse, Prozess. Urteil. Das Gericht rechnet Lichtenberger seine wissenschaftlichen Absichten an. Er habe nicht mit Drogen gehandelt, sondern eigentlich nur forschen wollen.
Eine Bewährungsstrafe. „Das hat ihn verletzt, aber noch mehr verletzt hat ihn, dass alle Freunde sich schlagartig zurückgezogen haben.“ Kübel von Dreck hätten die über ihm ausgeschüttet, „die vorher ein- und ausgingen und sein Angebot, seine Drogen zu probieren, gern annahmen“. Der Arbeitgeber hat ihm schon vor der Verurteilung gekündigt, das Labor ist zerstört und in dem kleinen Haus in Kröllwitz brodeln die Depressionen hoch. Eine mütterliche Freundin, mit der Lichtenberger die Liebe zur Musik, zu Spaziergängen und tiefgründigen Gesprächen teilt, findet bei einem großen Pharmakonzern einen neuen Job für ihn. „Er war ja Spezialist für Gegenanzeigen, er konnte zu jedem Wirkstoff aus dem Kopf sagen, was der tut, wenn er mit einem anderen reagiert.“
Doch der Senior Scientist Modeling & Simulation, wie Lichtenberger jetzt heißt, ist nicht glücklich mit der hochdotierten Stelle. „Er fühlte sich mal über- , mal unterfordert.“ Die Sicherheitspharmakologie, die ihn jetzt beschäftigt, fühlt sich für den Visionär, der die Welt heilen will, an wie Tippkick für einen Fußball-Nationalspieler.
Weshalb Lichtenbergers Kollegen ihn in Anlehnung an eine US-Serie auch ,Heisenberg’ nannten, lesen sie auf Seite 2.
Es ist das, was ihm bleibt. Vor Gericht hatte er noch versichert, „ich will meine berufliche Zukunft nicht gefährden“. Aber dann kann er doch nicht anders. Er fängt wieder an. Zu Hause. Insgeheim. Olaf Lichtenberger beginnt, sein Labor neu aufzubauen. Er schafft Resonanzspektrometer an, Waagen und Rührwerke, ein Elektronenmikroskop. Lichtenberger meint es ernst. „Im Grunde hat er um sich selbst gekämpft“, sagt die Freundin, die die letzte Vertraute des einsamen Erfinders war. Von seinen „schönen Projekten“ schwärmt er ihr vor, davon, wie er aus neuen Strukturformeln Designerdrogen entwickelt, die die Blut-Hirnschranke wie ein Blitz überwinden. Lichtenberger hat nun niemanden mehr, an dem er seine superreinen Meth-amphetamine testen kann. „Er hat deshalb Selbstversuche unternommen und alle seine Beobachtungen sorgsam aufgeschrieben.“
Auf seiner Arbeitsstelle, zu der er in die alten Bundesländer pendeln muss, ahnt niemand etwas von der geheimen Nebenbeschäftigung. Die Kollegen hier schätzen Lichtenberger wegen seiner umfassenden Kenntnisse, allerdings sei er allen immer „ein wenig seltsam“ vorgekommen. „Aber so sind Genies nun mal“, sagt eine frühere Mitarbeiterin. Dass der Hallenser daheim für sich allein an einer medizinischen Weltsensation knobelt, dafür Gesetze bricht und zuweilen sogar langwierige chemische Prozesse in seiner Abwesenheit im Heimlabor weiterlaufen lässt, ahnt niemand. „Trotzdem haben wir ihn ,Heisenberg’ genannt.“
So wird auch die Hauptfigur der US-Fernsehserie „Breaking Bad“ gerufen, ein unbescholtener Chemielehrer, der zum Drogenkoch wird. Ein seltsamer Zufall. Doch Lichtenberger hat nichts zu verbergen. Unter der Nummer 102011015842 meldet er sogar ein Patent zur Verwendung von sogenannten Fluorphenylalkylaminen als Arzneimittel in der psychoanalytischen Therapie an.
„Aber er hatte den Blick für die Wirklichkeit verloren“, sagt seine Vertraute, der nicht verborgen bleibt, dass ihr Freund eigentlich nach einer Therapie und einer Medizin für sich selbst sucht. Lichtenberger sei unglücklich gewesen, mit sich selbst im Unreinen und oft krank. „Nach dem Tod seiner Eltern vor anderthalb Jahren wurde es noch mal schlimmer“, erinnert sie sich. Er habe sich damals gewünscht, nirgendwo mehr hingehen zu müssen, um zu arbeiten. „Andererseits wollte er funktionieren und niemanden enttäuschen“.
Warum Lichtenberger keinen Ausweg mehr sieht, lesen sie auf Seite 3.
Richtig entspannt ist Lichtenberger nur noch im Wald, wenn er aus der Erinnerung jede Blüte und jedes Blatt bestimmen kann und seiner Begleiterin nebenher leichthin die Grundlagen der Quantenphysik erklärt. Und am Klavier natürlich, wo sich seine Lebensuntüchtigkeit in vollendeten Harmonien auflöst. „Ich saß immer wie verzaubert da, wenn ich ihm zuhören konnte.“
Zu den Akten
Es sind Minuten der Flucht vor einem Alltag, aus dem Olaf Lichtenberger für sich selbst wohl schon längst keinen Ausweg mehr sieht. „Er hat sich alt gefühlt, er fühlte sich verlassen und von niemandem geliebt“, sagt seine Freundin im Rückblick. Sie haben miteinander darüber geredet, die Frau, die sich verantwortlich fühlt für den jüngeren Mann, den sie für seine Brillanz bewundert und wegen seiner Schwermut bedauert.
Aber Lichtenberger kann nicht mehr herausklettern aus dem Loch, in dem er sitzt. Er liest jetzt Jean Amérys Buch über den Freitod, er spricht über ein letztes „Experiment“, das er noch wagen will.
Anfang Juni stirbt Alexander Shulgin, ein US-Pharmakologe, den er bewundert. Olaf Lichtenberger hört jetzt viel Bach, er sagt, er habe den Komponisten lange unterschätzt. Er lässt sein Haus, wie es ist, vollgestellt mit all den Chemikalien und Laborgeräten. Er schreibt keinen Abschiedsbrief und sagt auch seiner letzten Freundin nicht Bescheid. Er habe eine Möglichkeit gefunden, ganz sanft hinüberzugleiten, hatte er ihr schon lange zuvor verraten.
Irgendwann im Juni, an einem Mittwoch zwischen Mitternacht und Mittag, so steht es auf dem Totenschein, legt er sich hin, um nie mehr aufzustehen. Die Staatsanwaltschaft kann kein Fremdverschulden erkennen. Der Fall geht zu den Akten. (mz)



