Cyber-Haus Cyber-Haus: Mächtig auf Draht

MAGDEBURG/MZ. - Vor der Tür, da stutzt sie zum ersten Mal. Hier gibt es kein Schloss, wie sie es seit Kindheitstagen kennt. Wer in diese Wohnung des 16-Geschossers am Rande des Magdeburger Stadtteils Neustädter Feld möchte, braucht nichts weiter als seine Hand - und den Fingerabdruckscanner neben der Tür. Nie wieder Schlüssel verlieren oder in überfüllten Handtaschen suchen! Dennoch ist Hildegard Weide skeptisch. "Braucht man dafür Abitur", murmelt die resolute Dame. Nein, mit heutiger Technik hat sie es nicht so.
Hildegard Weide ist 99 Jahre alt. An diesem Tag wird sie zum ersten Mal im Leben ein iPad in der Hand halten, wird erleben, was der Tablet-PC von Apple mit modernem Wohnen zu tun hat. Die Magdeburgerin lernt mit zwei Nachbarinnen eine Cyber-Wohnung kennen. Im eigenen Haus, dem Cyber-Haus von Magdeburg.
Das 1983 errichtete Gebäude war nach seiner Sanierung Ende der 90er schon einmal das Gebäude mit der schnellsten Internet-Verbindung in der Stadt - bis es von der rasanten technischen Entwicklung eingeholt wurde. In den vergangenen Monaten wurden nun 130 000 Euro investiert, um Glasfaserkabel bis in jede der 130 Wohnungen zu verlegen - "nach unserem Wissen ist das einzigartig in Sachsen-Anhalt", sagt Ralf Taschner, Sprecher des Magdeburger Internet-, Fernseh- und Telekommunikationsanbieters MDCC, der das Pilotprojekt gemeinsam mit der Wohnungsbaugenossenschaft Otto von Guericke realisierte.
Rasante Geschwindigkeiten
In jeder Wohnung sind nun rasante Internet-Geschwindigkeiten von 150 Megabit pro Sekunde möglich - in weniger als einer Minute ist damit ein kompletter Spielfilm in HD-Qualität aus dem Netz geladen. "Dafür braucht mancher heute noch einen halben Tag", sagt Taschner. Und nach oben ist die Skala bei Glasfaserkabel offen. "Wer weiß, über welche Datengeschwindigkeiten wir in zehn Jahren reden. Wir sind gerüstet", erklärt Taschner.
Die High-Speed-Internetverbindung ist eine der Grundlagen für das, was der eigens eingerichteten Cyber-Wohnung gezeigt wird: Wohnen im 21. Jahrhundert. Ein ans Netz angeschlossener 3D-Fernseher, der das Kino in die heimischen vier Wände holt und dank Webkamera selbst Videotelefonie möglich macht, kabellos verbundene Spielekonsolen, ein Multimediasessel mit integriertem Musikplayer und Lautsprechern: Hier schlägt das Herz von Technik-Fans höher.
Wohnen in der Zukunft, das heißt für Projektkoordinator Christoph Serbser aber auch, "dass Sie vom PC-Bildschirm im Büro aus den heimischen Haushalt steuern". Selbst über iPad oder Smartphones kann leicht von jedem Punkt der Welt aus die Heizung in der Cyber-Wohnung angeschaltet und die Temperatur reguliert, können spezielle Steckdosen an- und abgeschaltet werden. So muss Frau auf dem Weg zur Arbeit nicht einmal mehr grübeln, ob sie den Stecker vom Bügeleisen tatsächlich herausgezogen hat! Netzwerkkameras erlauben es theoretisch, vom Büro aus nachzusehen, was die lieben Kleinen so treiben und ob es der pflegebedürftigen Oma gut geht; vom Job aus zu erkennen, wer gerade an der Tür klingelt, sogar mit ihm zu reden.
Und während Serbser im Seniorenzimmer das nicht einmal handygroße EGK präsentiert, das seine Daten drahtlos und in Echtzeit zum Hausarzt sendet, wird der Boden - ausnahmsweise noch ohne Internet - vom Staubsauerroboter geputzt. Die Fenster tönen sich bei Sonneneinstrahlung automatisch ein. Nur in der Küche geht es relativ mechanisch zu. Der intelligente Kühlschrank, der zur Neige gehende Lebensmittel automatisch per Internet nachbestellt, ist auch im Magdeburger Milchweg 31 noch Zukunftsmusik.
Wie viele der 130 Mieter die schnelle Internetverbindung (für rund 50 Euro inklusive Telefon-Flatrate) nutzen und sich selbst mit High-Tech einrichten, ist noch unklar. Das Interesse an Wohnungen im Haus ist aber schon gestiegen. "In den letzten Wochen hatten wir 10 bis 15 Besichtigungen mehr pro Woche", sagt Juliane Splitt, Sprecherin der Wohnungsgenossenschaft. Überwiegend leben junge Menschen im Cyber-Haus. Ein Drittel der Bewohner sind aber auch Senioren. Der älteren Generation sollen nun verbilligt Computerkurse an der Volkshochschule angeboten werden und "jeder zweite wird wohl das Angebot nutzen", schätzt Projektkoordinator Serbser. An einem Tag der offenen Tür können sich demnächst die Nachbarn die Cyber-Wohnung anschauen.
Gelegenheit zum Staunen
Hildegard Weide, Hildegard Ulrich (90) und Rosemarie Preuß (84) hatten die Gelegenheit zum Staunen jetzt schon. Preuß fände es schön, ihre Heizung vom Tisch aus steuern zu können statt dazu mühsam hinter die Couch zu krabbeln. Sich in ihrem Alter mit Technik anzufreunden, daran zweifelt sie aber ebenso wie Hildegard Weide. Die 99-Jährige wird weiterleben wie bisher: "Mir fehlt nichts."