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Brexit Brexit: Sachsen-Anhalts Unternehmen rechnen mit "spürbaren Folgen"

Von Steffen Höhne 24.06.2016, 17:46
Bei Novelis in Nachterstedt (Salzlandkreis) werden Aluminium-Karosserieteile für den britischen Autobauer Jaguar gefertigt.
Bei Novelis in Nachterstedt (Salzlandkreis) werden Aluminium-Karosserieteile für den britischen Autobauer Jaguar gefertigt. dpa

Halle (Saale) - Wenn Frauen am Abend Kosmetiktücher zum Abschminken in die Hand nehmen, dann besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass diese aus Sachsen-Anhalt kommen. Das Unternehmen Nice-Pak produziert bei Magdeburg für viele großen Markenhersteller - sei es Penaten oder L'Oréal - Feuchttücher. 170 Millionen Packungen verlassen jährlich das Werk. Der Austritt der Briten aus der Europäischen Union könnte für das Unternehmen durchaus negative Folgen haben. Die US-Mutter Nice-Pak besitzt neben der deutschen auch noch eine große Produktionsstätte in Flint (Nordwales). „Je nach Bedarf produzieren wir für das britische Werk und umgekehrt“, sagt Geschäftsführer Clemens Monir. So könne man neue Aufträge von Großkunden ohne Probleme auf zwei Standorte verteilen. Diese Flexibilität sieht Monir nun in Gefahr. „Sollten künftig Zölle erhoben werden, wäre diese Geschäftspraxis nicht mehr möglich.“

Gefahr durch Währungsabwertung

So wie Monir müssen sich nun einige Unternehmenschefs aus Sachsen-Anhalt Gedanken machen, wie sie mit möglichen Folgen des Brexit umgehen. Was bisher kaum wahrgenommen wurde: Großbritannien ist der zweitwichtigste Handelspartner für Unternehmen aus Sachsen-Anhalt. Im vergangenen Jahr wurden Waren und Dienstleistungen im Wert von 1,18 Milliarden Euro auf die Insel geliefert. An erster Stelle stehen mit rund 400 Millionen Euro Aluminium-Waren. Es folgen für rund 90 Millionen pharmazeutische Produkte, Backwaren (80 Millionen Euro) und Kupfer (48 Millionen Euro). Importiert wurde vor allem Erdöl und Erdgas für 135 Millionen Euro - aber auch Käse für acht Millionen Euro.

Handelspartner aus Sachsen-Anhalt

Bei den Aluminium-Exporten dürfte ein Großteil auf das Unternehmen Novelis in Nachterstedt (Salzlandkreis) entfallen, das Karosserieteile an den britischen Autobauer Jaguar liefert. Das Werk wurde in den vergangenen Jahren extra für die Produktion deutlich ausgebaut. Nach MZ-Informationen sind die Lieferungen durch langjährige Verträge gesichert. Die Firma erwartet zunächst „keine unmittelbaren Auswirkungen“, teilte eine Sprecherin mit.

Kupferdrähte und Bleche liefert das Unternehmen MKM aus Hettstedt (Mansfeld-Südharz) nach Großbritannien. „Etwa sieben Prozent unseres Umsatzes erwirtschaften wir mit dortigen Kunden“, sagt Roland Harings. Man erwarte nicht, dass die Geschäftsbeziehungen jetzt abreißen. „Doch selbst wenn es Rückgänge gibt, können wir das verkraften“, so Harings. Seit 2013 gehört MKM auch einem britischen Eigner, dem Ex-Investmentbanker Ian Hannam. „Wir haben auch mit ihm verschiedene Szenarien diskutiert, was der Brexit für MKM bedeutet“, erzählt Harings. Dabei stand immer fest, dass Hannam zu seinem langfristigen Investment in Hettstedt steht.

Dies gilt auch für Innospec. Das Chemie-Unternehmen aus Leuna gehört seit 2004 zu einer anglo-amerikanischen Firmen-Gruppe. „Unsere Geschäfte mit britischen Kunden sind überschaubar“, sagt Geschäftsführer Dietrich von der Wense. Sollte es in Großbritannien zu einer Rezession kommen, dann wären die dortigen Standorte mehr betroffen. Die Struktur des Mittelständlers mit insgesamt 1 200 Mitarbeitern sei jedoch so ausgerichtet, dass Krisen in einem Land nicht das Gesamt-Unternehmen in Bedrängnis bringen.

Die Präsidentin der Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau (IHK), Carola Schaar, geht dennoch davon aus, dass der Austritt „durchaus spürbare Folgen“ für die hiesigen Firmen haben wird. Zum einen weist sie darauf hin, dass sich die Exporte über den Ärmelkanal in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt haben. „Diese Erfolgsgeschichte wird zwar nicht abrupt gestoppt“, so die IHK-Chefin, „aber sie kann nicht einfach fortgeschrieben werden“. Noch sei vollkommen offen, ob die Briten ein EU-Drittstaat werden oder dem Europäischen Wirtschaftsraum beitreten. „Die Bürokratie im Exportgeschäft wird zunehmen“, ist sich Schaar sicher. Nach Ansicht des IHK-Hauptgeschäftsführers Thomas Brockmeier dürften die Wechselkursschwankungen zwischen Euro und Pfund unmittelbar Auswirkungen auf den Handel haben. „Wir sehen jetzt schon eine kräftige Abwertung des Pfunds“, so Brockmeier. Das heißt, Waren aus Sachsen-Anhalt werden für britische Kunden teurer und dadurch vielleicht weniger attraktiv. Laut Brockmeier können sich durch Währungskurs-Änderungen relativ schnell auch Warenströme verschieben.

Nach den Statuten des Lissabon-Vertrages haben die EU und Großbritannien zwei Jahre Zeit, sich über die Modalitäten des Austritts zu einigen. Dabei geht es beispielsweise um so wichtige Fragen, wie es um die Arbeitserlaubnis von Briten in der EU und Deutschen auf der Insel steht. „Sollte die berufliche Tätigkeit von Briten in Deutschland eingeschränkt werden, würde dies einigen Unternehmen massiv schaden“, so Brockmeier.

Wirtschaftsminister Jörg Felgner zum Brexit

Soweit soll es laut Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Jörg Felgner (SPD) nicht kommen. Zunächst erzählt er unumwunden, dass er den Austritt nicht erwartet hat: „Abends geht man mit dem Gefühl ins Bett, dass Großbritannien in der EU verbleibt und am Morgen steht man mit dem Brexit auf.“ Felgner traf sich am Freitag allerdings sofort mit den Spitzen von IHK und Handwerkskammern. „Zunächst ist es wichtig, dass es keine Schockstarre gibt“ so der Minister. Man müsse mit dem Ergebnis professionell umgehen. Er werde sich in den kommenden Monaten politisch dafür einsetzen, dass die Austrittsbedingungen so gestaltet werden, dass die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen so gering wie möglich bleiben. Kurz: Von Handelsbarrieren, Arbeitsbeschränkungen und gar Zöllen hält Felgner nichts.

Hilfe für Firmen möglich

Er verweist auf das negative Beispiel Russland: „Durch die Sanktionen sind die Exporte von hiesigen Unternehmen in kurzer Zeit von 500 auf 300 Millionen Euro eingebrochen.“ Ein Magdeburger Maschinenbauer hätte sogar Insolvenz anmelden müssen. „Wenn ein hiesiges Unternehmen durch den Brexit in eine schwierige Lage kommt, dann wird das Wirtschaftsministerium nicht abseitsstehen“, sagt Felgner. Derzeit gebe er aber keine Hinweise, dass es solch gravierende Auswirkungen geben wird.

Aktuell lässt sich die Gemütslage vieler Unternehmens- und Verbandschefs mit einem Wort umschreiben: überrascht. IHK-Hauptgeschäftsführer Brockmeier meint dazu: „Da haben wir jahrelang die möglichen Auswirkungen eines Grexit, dem Austritt Griechenlands aus dem Euro, diskutiert und das viel entscheidendere Ereignis des Brexit ereilt uns nun über Nacht.“ (mz)