Aussteiger Aussteiger: Im Bann des Wushu
Halle (Saale)/MZ. - Ein Mensch muss Xiao (ausgesprochen Shao) haben. Hat er es nicht, ist er vermutlich kein Chinese. Maik Albrecht ist Deutscher, hat es aber dennoch. Ein passendes deutsches Wort für Xiao gibt es nicht. Dabei sagt es viel aus: Es bedeutet, dass es so etwas wie die Pflicht eines Kindes ist, Eltern und Lehrern mit Respekt und Anstand gegenüberzutreten. Für den Hettstedter Maik Albrecht ist das nach zehn Jahren in China selbstverständlich geworden. Erzählt der Hettstedter über seine zweite Heimat China, schwingt in jedem seiner Worte Respekt und Hochachtung mit. "Xiao unterstreicht die Moral des Landes und jedes einzelnen Chinesen", sagt er und schweigt dann.
Maik Albrecht sagt nichts, wenn er nichts zu sagen hat. Was über seine Lippen kommt, klingt durchdacht und tiefgründig. Wenn er redet, dann klingt der 30-Jährige wie ein Mann, der auch den kleinsten Eindruck zur wertvollen Lebenserfahrung machen kann. Nach zehn Jahren in China ist der Hettstedter eins geworden mit der fremden Kultur. Dennoch: Was es heißt, sich durchzuschlagen, hat Albrecht erst am anderen Ende der Welt gelernt.
In China hat sich der Deutsche mittlerweile selbst sein Xiao verdient. Albrecht ist in zehn Jahren zu einem angesehenen Kampfsportler in der Volksrepublik geworden und trainiert nun sogar Chinesen. Genau so gut wie seine einstigen Lehrer beherrscht er den östlichen Kampfsport. Wushu nennen die Chinesen und Albrecht ihre Künste - ein Oberbegriff, der alles Kämpferische, Technik, Stil, aber auch die Pflege von Körper und Geist zusammenfasst.
Doch gegen Esoterik und jegliche Mystik verwahrt sich der durchtrainierte Mann. Er muss manches Mal mit Vorurteilen aufräumen. "Schweben können wir nicht und wir zerhauen auch keine Holzblöcke", bekräftigt er. In erster Linie diene die Kampfkunst, die am ehesten als eine Art chinesisches Thaiboxen zu beschreiben ist, der Gesundheit und dem Selbstschutz. Schnelle Tritte, harte Schläge - das ist der Alltag von Maik Albrecht. Er trainiert vier Stunden täglich auf Hinterhöfen, in Parks oder einfach zu Hause. Er hat ein chinesisches Sondereinsatzkommando der Polizei ausgebildet und wurde 2006 als erster Nicht-Chinese Weltmeister in der chinesischen Kampfkunst. Das alles erwähnt Maik Albrecht jedoch ganz beiläufig.
Dabei war China für den Hettstedter vor zehn Jahren noch ganz weit weg, obwohl er sich schon mit acht Jahren dem Kampfsport Karate verschrieben hatte. Abitur und Wehrdienst lagen hinter ihm, als er in einem Dessauer Kampfsportverein einen der letzten Wushu-Meister kennenlernte: Li Xhenghua. Ohne die Sprache des anderen zu können, verstanden sich beide auf Anhieb. Li lud den jungen Deutschen zu sich nach China in die Stadt Wuhan ein. Bleiben wollte er nur ein halbes Jahr, um dort zu trainieren und das Land kennen zu lernen. Doch es kam anders. Sechs Monate waren dem großen, blonden jungen Mann schließlich nicht genug. Li bat ihn zu bleiben. Und er blieb. Albrecht lebte bei seinem Meister und dessen Familie - zunächst ohne chinesisch sprechen zu können. "Zwischen manchen Menschen ist keine Sprache nötig", erklärt er. Dennoch entschied er sich später, Sprache und Kultur des Landes zu studieren. Mit ein paar ersten Worten chinesisch schrieb er sich an einer der größten Universitäten Chinas in Wuhan ein. Und schloss vier Jahre später mit einem Bachelor in Sinologie ab.
Mittlerweile beherrscht Albrecht 3 000 bis 5 000 chinesische Schriftzeichen und kann Fachgespräche führen. "Ich lerne aber noch jeden Tag dazu", sagt er. Außerdem schaute er sich von den Chinesen ab, tiefgründig zu sein. "Gesagtes ist nicht gleich Gesagtes." Eine tiefere Bedeutung hätten die Worte der Chinesen immer, meint Albrecht, der sich ohne es zu bemerken der chinesischen Art angepasst hat. Und er erkennt: "China ist eine Gefühlsgesellschaft." Alles hänge von zwischenmenschlichen Beziehungen ab und erscheine Außenstehenden deshalb oft chaotisch. Dabei sei das nicht mehr als Flexibilität, betont Albrecht. Im Gegenteil: "Chinesen kennen keine Hektik, sind nicht so verbissen wie Deutsche."
Gerade weil die zwei Kulturen so unterschiedlich seien, sieht er Deutschland und China als ideale Partner. "Deutschland kann auf China nicht verzichten", versichert der studierte Sinologe. "Wenn China schwankt, schwankt alles." Diese Erfahrung verdankt er auch seiner Arbeit. Albrecht organisierte zusammen mit einem Team des Auswärtigen Amtes die Expo 2010 in Shanghai, half beim kulturellen und wirtschaftlichen Austausch. Inzwischen hat er sich selbstständig gemacht. Seine Firma mit Partnerunternehmen in Deutschland sorgt für deutsch-chinesische Handelsbeziehungen, unter anderem indem sie Firmen zusammenführt.
Die Zeit für sein Wushu lässt sich der Sportler aber nicht nehmen. "Wushu ist eine Essenz der Kultur, es hilft mir auch weiterhin, sie verstehen zu lernen. Ich und alle, die tagtäglich kämpfen, entwickeln sich darin." Bei diesem Satz bemerkt er es dann doch: "Mein Denken und Handeln hat sich wohl in den letzten zehn Jahren sehr verändert." China ist ihm Heimat geworden. Aus seinem Meister Li, dem er stets Xiao - seine "Kindspflicht" - erwiesen hat, ist mittlerweile sein Schwiegervater geworden. Zusammen mit Frau Li Qiaofang lebt der junge Ehemann in einer Wohnung nur fünf Minuten von seinem Meister entfernt. Kinder hat die Familie noch nicht. Xioa aber hat er genug.