Ärger der Nachwuchs-Lehrer Ärger der Nachwuchs-Lehrer: Sachsen-Anhalts Referendare unterrichten zu viel

Halle (Saale) - Kurz vor zwölf Uhr fällt im Geschichtsraum eine Federmappe vom Tisch, doch das bekommt Holger Trauzettel gar nicht mit. Der 31-Jährige schaut sich in seiner 7. Klasse um. Offenbar gibt es Unklarheiten, es wird getuschelt. „Wie viele Zeitangaben braucht ihr denn noch“, fragt er.
Die Schüler brüten über einer besondere Aufgabe, die der Junglehrer mitgebracht hat: Sie sollen mit alten Original-Dokumenten etwas über die Gründung der Universität Halle lernen. Wobei „original“ in dem Fall heißt: Trauzettel hat die Quellen zu Hause so geschrieben, dass sie schön echt und historisch klingen. Darunter ist auch ein Brief von Christian Thomasius, Mitgründer der Juristischen Fakultät, der von seiner ersten Vorlesung schwärmt.
Referendare müssen nach vier Wochen selbstständig unterrichten
Ins Schwärmen gerät Trauzettel selbst nach der Stunde allerdings nicht - obwohl die Schüler im Unterricht gute Antworten geben. Trauzettel, seit September 2017 Referendar und damit Lehrer in Ausbildung am Christian-Wolff-Gymnasium in Halle, ist selbstkritisch: „Die Quellenarbeit hat gut geklappt. Aber beim kreativen Schreiben war die Aufgabenstellung bei vielen nicht so klar.“
Spontan-Fazit: „Ich hätte die Schüler zwischendurch noch mal an die Hand nehmen sollen. Als erfahrener Kollege sieht man das vermutlich sofort, als junger Lehrer muss man da reinwachsen, das Gefühl entwickeln.“
Referendare wie Trauzettel sind 2017 verstärkt ins Blickfeld der Schulpolitik gerückt. Aufgrund des akuten Personalmangels will Sachsen-Anhalts Bildungsminister Marco Tullner (CDU) wirklich alle verfügbaren Kräfte mobilisieren. Es traf auch die jüngsten Lehrer, die frisch von der Uni kamen: Referendare wie Trauzettel müssen jetzt zehn ihrer zwölf Unterrichtsstunden in der Woche eigenverantwortlich halten, also ohne die Betreuung erfahrener Kollegen.
Früher waren es lediglich acht Solostunden. Besonders wühlt Gewerkschafter und Lehrer aber auf: Das selbstständige Arbeiten startet für die Referendare nun bereits viel früher, nämlich schon nach vier Wochen an der Schule.
Nachwuchs-Lehrer sehen sich als „Versuchskaninchen“
Das kam nicht gut an. Als „Versuchskaninchen“ würden sie missbraucht, klagten junge Pädagogen dem Minister im Winter. Erfahrene Pädagogen wie Trauzettels Schulleiter Andreas Slowig sagen: „Bei sehr guten Referendaren kann man das verantworten. In vielen Fällen geht das aber nicht gut.“
Für Slowig ist Trauzettel solch ein Glücksfall, auch weil der Referendar mit dem Zweitfach Physik eine seltene Kombination hat. „Acht Stunden eigenverantwortlicher Unterricht fand ich noch gut“, erklärt Slowig, „bei zehn Stunden heißt das aber de facto, dass in einem Fach gar keine Betreuung mehr stattfinden kann.“
Und das sei hochproblematisch, so der Rektor. Denn natürlich stellten Fächer wie Geschichte und Physik völlig unterschiedliche Anforderungen an die Lehrer. Im jetzigen System würden Referendare aber sehr schnell ihrem Schicksal in den Klassen überlassen.
Trauzettel wünscht sich Praxissemester nach thüringischem Vorbild
Auch Trauzettel, der selbst an der Universität in Halle studiert hat, wünscht sich mehr Stunden mit ehrlichen, kritischen Einschätzungen von erfahrenen Kollegen. „Wenn du vor der Klasse stehst, kriegst du vieles gar nicht so mit - gerät die Klasse in Unruhe, und wenn ja, liegt das an meinem Unterricht? Das muss ja gar nicht unbedingt am Lehrer liegen. Aber in diesen Fällen ist es gut, wenn man darauf von außen hingewiesen wird“, betont Trauzettel.
Zumal Referendare wie er auch erstmals die Härten des Jobs außerhalb des Klassenraums kennenlernen. Etwa die Vorbereitung der Stunden: Für die 45-Minuten-Einheit vor der Klasse waren zuvor dreieinhalb Stunden am Schreibtisch nötig. „Das braucht seine Zeit“, sagt Rektor Slowig, auch Geschichtslehrer. „Nach ein paar Jahren braucht man dafür noch etwa anderthalb Stunden.“
So prasseln auf die Referendare in ihren ersten Wochen an der Schule viele Probleme ein. Zwar verbringen die Lehramts-Studenten bereits in den ersten Semestern mehrere Wochen an den Schulen. „Da sieht man zwar durchaus, ob das einem liegt“, sagt Trauzettel. „Aber die Tiefe ist nicht ausreichend. Man ist da eher Besucher, bekommt die Prozesse an der Schule nicht richtig mit.“
Ein ganzes Praxissemester - wie in Thüringen - würde er sich auch in Sachsen-Anhalt wünschen. Das würde auch jenen Referendaren, die in Sachsen-Anhalt nun sehr stark im Schulalltag eingespannt sind, ein besseres Rüstzeug verpassen. „Bei mir fängt das zu Hause zum Teil meine Frau auf, sie ist Grundschullehrerin“, so Trauzettel. „Das Glück hat nicht jeder, logisch.“
Theorie an Universitäten bereitet nicht gut genug auf Lehr-Beruf vor
Zumal sich mit Blick auf die Universitätsausbildung Lehrer und Bildungsminister sogar einig sind: Sie ist längst nicht so praxisnah wie sie sein könnte. Während Tullner gar das Wort „Elfenbeinturm“ in den Mund nimmt, sieht auch Trauzettel Probleme an den Hochschulen. „Da gibt es Dozenten, die haben sehr viel Kontakt zu den Schulen, aber es gibt auch einige, die messen sich lieber mit irgendwelchen Fachdidaktikern in Bielefeld.“
Im Endeffekt sei Ausbildung in den Seminaren nicht gut genug auf den Lehrerberuf zugeschnitten - tatsächlich sitzen Lehramts-Studenten oft mit regulären Fachstudenten zusammen, die kein Interesse an Pädagogik haben. „Da kann ich am Ende des Studiums psychologische Studien durchführen und Unterricht evaluieren“, sagt Trauzettel, „aber nicht unterrichten.“ Auch daher sei es so falsch, dass das Ministerium die Axt am Referendariat angelegt habe - „gerade an dem Part, der bis dahin noch ganz sinnvoll und hilfreich war“.
Slowig wünscht sich mehr Austausch zwischen Universitäten und Schulen
Rektor Slowig wünscht sich nun einen regelmäßigen Austausch zwischen Universitäten, Lehrerausbildern und Schulen, um die Ausbildung zu verbessern. „Auch bei den Fachdidaktikern muss ein Umdenken stattfinden.“ Wäre der Lehrplan an der Uni genauer zugeschnitten, „könnten wir am Ende wahrscheinlich sogar ein Jahr wegnehmen“.
Slowigs Probleme sind seit der Reform freilich ganz spezielle: Da sein Gymnasium relativ viele Referendare ausbildet, steht die Schule in puncto Personalausstattung plötzlich sehr gut da - jedenfalls auf dem Papier, da die Referendare jetzt viele Stunden übernehmen müssen.
Ein Trugbild, sagt Slowig. „Früher waren Referendare die letzten Joker der Vertretungsreserve, heute werden sie mir angerechnet.“ Dies schaffe nun neue Ungerechtigkeiten im System, da Schulen profitieren, die sich mit der Ausbildung seit Jahren schwertun. „Vielleicht sollte man im Ministerium darüber nachdenken, die stark ausbildenden Schulen mit Honoraren zu helfen. Tullner schließt das in diesen Tagen nicht aus. „Auf der Schiene wollen wir vorankommen.“ (mz)
